Sonntag, 20. Oktober 2013

Rag Doll - Lichtblickpredigt hl

„Lumpenpuppe“ oder „Weil du mich kennst, darum liebst du mich.“

Liebe Freunde,
wer von euch ist alt genug, dass er sich noch an diesen Song erinnert? [Einspielung der ersten Takte von „Rag Doll“] Ja, ich weiß, mit solchen Songs kann man heute keinen Hund mehr hinterm Ofen vorlocken. Aber in den sechziger Jahren war das ein großer Hit: „Rag Doll“ von Frankie Valli und den Four Seasons.
Die Story, die dieser Song erzählt, geht so:
Als sie noch ein Kind war, trug sie verschlissene Kleider. Man lachte über sie, als sie in die Stadt kam. Man nannte sie Rag Doll, Lumpenpuppe.
Zu ihrem hübschen Gesicht hätte sie Kleider aus feinen Spitzen tragen sollen.
Wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte ich ihre traurigen Lumpen am liebsten mit fröhlichen Kleidern vertauscht.
Aber meine Leute ließen das nicht zu. Sie sagten, sie sei kein guter Mensch.
Sie ist doch eine Rag Doll, nur so eine Lumpenpuppe.
Doch ich liebe sie so, ich kann sie nicht vergessen.
Ich liebe dich gerade so wie du bist, Rag Doll, Lumpenpuppe.
(Song „Rag Doll“ von Frankie Valli und den Four Seasons)

Und du, der du jetzt hier sitzt, bist – mit Verlaub – auch eine Lumpenpuppe. Auf die Idee, euch so zu nennen, hat mich ein Kollege gebracht, der vor 14 Tagen auf dem Promiseland Kongress in Siegen gepredigt hat. Ich war da mit neun  Ehrenamtlichen, die in unserer Gemeinde den Kindern dienen und tolle Angebote für sie machen. Ein paar sind jetzt unten beim Kinderlichtblick. Ich bin auf diese Männer und Frauen mächtig stolz und bin dankbar, dass Gott sie uns geschickt hat.
Also, die Idee, euch Lumpenpuppen zu nennen, habe ich von da mitgebracht.

Jener Kollege sprach von einem Lumpen-Teddy, der einmal seiner Schwester gehört und den er auf dem Dachboden gefunden hatte. Ich möchte euch von einer echten Rag Doll, einer wirklichen Lumpenpuppe erzählen. Sie hatte einst vor über 30 Jahren unserer kleinen Nachbarin Tabea gehört und wurde von ihr „Anna“ genannt. Jene Lumpenpuppe war ganz aus Stoff und wurde von Tabea überall mit hingenommen: Zu den Mahlzeiten, in den Sandkasten, zum Einkaufen mit Mama, ja sogar aufs Klo und natürlich jede Nacht mit ins Kinderbett. Wo Tabea war, war auch ihre Anna und umgekehrt. Ihr könnt euch vorstellen, wie diese Stoffpuppe schon nach kurzer Zeit ausgesehen hat. Ihre Mama Renate hat sie in die Waschmaschine gesteckt. Das gab ein Geschrei! Anna hat nämlich hinterher nicht mehr so gerochen wie zuvor und war auch nicht mehr so fleckig und speckig. Und das hat Tabea sofort bemerkt. Denn in ihren Augen war die Lumpenpuppe Anna wunderschön , in den Augen der Liebe eines kleinen Mädchens von drei Jahren. Eines Tages, nachdem alles Flicken und Waschen nichts mehr geholfen hat, wurde die Puppe entsorgt und eine neue Ersatzanna gekauft, die genauso aussah wie die alte. Aber Tabea hat sie nicht genommen. Nachdem sie lange genug getobt, gebrüllt und geheult hatte, wurde die neue Anna in die Ecke geworfen und die alte wurde mit der Zeit vergessen.

Warum? Die neue war doch viel schöner. Aber die neue war eben nicht die alte, mit der Tabea so viel erlebt hatte. Die kleine Tabea hatte ihre Puppe nicht deshalb so geliebt, obwohl sie so zerlumpt war, sondern weil sie so war wie sie war.
Erinnert ihr euch noch an die Zeile von Frankie Valli und den Four Seasons: »Ich liebe dich gerade so wie du bist, Rag Doll, Lumpenpuppe.«

Vor der Predigt haben wir ein anderes Lied gesungen. Eines, das mir ganz gut gefällt. Nur die letzte Zeile vom Kehrvers mag ich gar nicht. Denn da singt man in der ursprünglichen Version:
»Gott, ich danke dir, dass du mich kennst und trotzdem liebst.« Ich hab dann den Text für unsere Lichtblickband ein klein wenig geändert. Und deshalb haben wir vorhin miteinander gesungen: »Und ich danke dir, dass du mich kennst und darum liebst.«

Vielleicht denkt sich jetzt der eine oder die andere: „Naja, so groß ist der Unterschied doch nicht.“ Da kann ich nur sagen: Denke an Tabea und ihre Puppe und an Frankie Valli und seine Rag Doll. Beide lieben ihre Lumpenpuppe nicht obwohl sie so zerlumpt war, sondern gerade deswegen. Und bei Gott ist es genauso. Da bin ich sicher. Er liebt dich und mich nicht obwohl wir so sind wie wir sind. Er liebt uns nicht trotzdem, dass er uns kennt, sondern weil er uns kennt.
Keiner von uns sitzt heute in zerlumpten Kleidern hier. Wir haben uns heute Morgen überlegt, was wir anziehen und wie wir uns in der Öffentlichkeit zeigen wollen. Wir haben und adrett gekleidet. Manche haben sich auch geschminkt. Wow! Aber wie steht es um unsere Seele? Wie sieht es hier drinnen aus?
Vielleicht sind wir äußerlich Models auf dem Laufsteg des Lebens, hübsch angezogen, und innen Lumpenpuppen, Menschen, deren Herz gebrochen ist, die mit Enttäuschungen leben müssen oder mit Anfeindungen. Die vereinsamt sind, von Sorgen geplagt und von Selbstzweifeln gequält. Die vielleicht eine Schuld belastet und ein schlechtes Gewissen drückt. Die in sich eine Wut oder einen Hass auf andere tragen. Vielleicht sind wir auch missgünstig, geizig und sogar ein bisschen gemein. Da ist dann wenig schön und heil, aber viel zerrissen und kaputt.
Was meint ihr, liebt uns Gott, obwohl wir so sind oder weil wir so sind?
Okay, bestimmt sind jetzt auch solche hier, denen es zurzeit gut geht. Auch wenn du mit dir und Gott und deinen Mitmenschen im Reinen bist, dann höre bitte trotzdem zu, was ich jetzt denen sage, die sich vielleicht zur Zeit so ähnlich wie seelische Lumpenpuppen fühlen.
Gott liebt dich, weil er dich kennt. Er liebt dich nicht, weil du liebenswert wärst. Wenn ich ehrlich zu mir selber bin, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich in Gottes Augen liebenswert bin. Aber mein ganzer Glaube hängt daran, dass Gott mich liebt, weil ich seiner Liebe bedarf.
Unter uns Menschen ist das meistens anders. Männer lieben Frauen, weil sie schön und attraktiv sind und weil sie auch liebevoll, mütterlich, verständnisvoll, zärtlich und anschmiegsam sind. Es soll auch rechte Kratzbürsten unter ihnen geben. Natürlich trifft das auf die anwesenden nicht zu, schließlich ist auch meine Frau hier und … Ich schweife ab. Was ich sagen will ist, wir lieben andere meistens wegen ihrer liebenswerten Seiten. Gott aber liebt uns, weil wir seine Liebe brauchen.

Jesus erzählt davon wie ein Hirte ein Schaf sucht, das davon gelaufen und verloren gegangen ist. Warum sucht der Hirte das Schaf und lässt die 99 anderen zurück? Sagt er vielleicht zu sich selber: „Nun gut, dann suche ich halt das blöde Schaf, weil ich ein so gutmütiger Hirte bin«? Nein, er macht sich auf die Suche, weil er weiß, dass das Schaf in Not ist, dass es ihn braucht, weil es ohne seinen Hirten erst recht verloren ist und nicht mehr zurückfindet.

Jesus erzählt auch vom verlorenen Sohn, der sich völlig zerlumpt und abgerissen wieder nachhause schleicht. Nichts an ihm ist mehr liebenswert. Aber sein Vater spürt sofort, dass der Sohn seine väterliche Liebe braucht und darum geht er, nein rennt er ihm entgegen und drückt ihn an sein Herz.

Liebe Freunde, wer einen anderen „trotzdem“ liebt, trotz seines Versagens, der sagt: „Eigentlich hat er es ja nicht verdient, dass ich ihn liebe. Dazu hätte er sich anders verhalten müssen. Aber ich will ja nicht so sein. Ich will nachsichtig mit ihm sein und gnädig. Ich will ihm nochmal eine Chance geben. Hört ihr den Unterton? Wer so denkt, der spricht immer nur von sich, sagt „Ich will, ich will, ich, ich, ich“.
Wer einen anderen liebt, weil er weiß, dass nur die Liebe ihm helfen kann, der denkt nicht zunächst an sich. Er sieht den anderen, wie er ist, er sieht seine Not. Er kommt ihm mit seiner Liebe zuvor und wartet nicht darauf, dass sich der andere erst durch Reue und Buße dieser Liebe würdig erweist.
Der gute Hirte wartet nicht mit verschränkten Armen, bis das verlorene, verirrte Schaf endlich wieder zurückkommt, um ihm dann gnädig das Gatter zu öffnen, sondern er geht ihm durch Hitze und Dornen, über Stock und Stein nach und sucht, bis er es findet. Und das, was ihn suchen lässt, ist seine große Sorge um das Schaf, weil er weiß, dass es ihn braucht, ihn, der keine Mühe scheut, um es zu finden. Und wenn er das Schaf gefunden hat, hält er ihm keine Moralpredigt, sondern legt es auf die Schulter und trägt es heim.
Und der Vater wartet nicht mit verschränkten Armen darauf, bis der Sohn vor der Haustür steht, um sie ihm dann mit einem vielsagenden Blick zu öffnen, um ihm zu demonstrieren, wie gnädig er doch ist und wie sehr sich der Sohn schämen muss, dass er einen so gnädigen Vater verlassen hat. Nein, stattdessen läuft er, rennt er seinem Kind entgegen, weil er es nicht erwarten kann, den Sohn in die Arme zu schließen, weil er spürt, wie sehr sein Kind seine Liebe braucht, die tröstet und heilt. Er kennt ja seinen Sohn. Er weiß wie ihm zu Mute ist. Er weiß, was ihm fehlt: die liebevolle Gemeinschaft mit dem Vater. Und genau das gibt er ihm.
»Und ich danke dir, dass du mich kennst und trotzdem liebst«. Dieses Trotzdem beschämt. Aber das Darum erlöst: »Und ich danke dir, dass du mich kennst und darum liebst.« Das Trotzdem wartet auf dem hohen Ross der Moral. Das Darum kommt entgegen.
Und unser Gott wartet nicht mit verschränkten Armen, dass wir reuige Sünder endlich zu Kreuze kriechen. Er ist unser himmlischer Vater, der uns Lumpenpuppen in Jesus entgegengeht und mit seiner Liebe zuvorkommt.
Nochmal: Gott liebt dich nicht deshalb, weil du so liebenswürdig wärst, sondern weil du liebesbedürftig bist. Er kennt dein Innerstes, deine Seele. Er weiß, wie einsam du manchmal bist und wie enttäuscht. Er kennt die Sünde, die dich zerstört. Und er weiß, was dich wieder heilt: die Liebe, die er dir in Jesus schenkt. Wenn schon Frankie Valli seine Rag Doll und Tabea ihre Lumpenpuppe so sehr liebt, dann liebt Gott dich noch mehr.
Vor 22 Jahren war ich Pfarrer in München. Einmal ging meine zweite Tochter sie nach der Schule mit einer Freundin in eine große Schreibwarenhandlung, wo es Aufkleber gab, die damals bei den Kindern groß in Mode waren. Die beiden achtjährigen Mädchen klauten sich ein paar Aufkleber. Das hatte ein Ladendetektiv gesehen. Er rief die Polizei. Die Mädchen wurden festgehalten, vernommen und dann nachhause geschickt. Die Eltern wurden von der Polizei verständigt. Ich war ganz schön betroffen, als mir ein Polizist am Telefon den Sachverhalt erklärte. Meine Tochter und so was?! Bald darauf hörte ich, wie sie die Treppe zu unserer Wohnung heraufkam. Sie war ein heulendes Elend. Ich lief ihr entgegen, nahm ihr die Büchertasche ab und wir gingen gemeinsam in die Wohnung. Dort nahm ich sie in die Arme und sagte nur: "Ich weiß schon Bescheid. Aber jetzt ist alles gut." 
Ich wusste unwillkürlich, dass ich jetzt mit einer Strafpredigt alles verderben würde. Warum ich das wusste? Vielleicht aus der Geschichte vom Verlorenen Sohn. Meine Tochter brauchte meine Liebe und sonst nichts. Später habe ich mit ihr nochmal über die Zehn Gebote gesprochen. Das das war vielleicht keine so gute Idee, denn sie wusste auch so, was sie falsch gemacht hatte. Nein, ihre Tat war nicht liebenswürdig. Aber dieser kleine Mensch war liebesbedürftig.
Wenn ich damals zu meiner Tochter schon so sein konnte, um wie viel mehr ist Gott so zu mir. Ich weiß, dass ich leider nicht immer so verständnisvoll auf die Fehler anderer reagiere. Ich bin auch impulsiv, platze mit meinem Ärger schnell heraus und verletze andere mit unbedachten Worten. Gott nicht. Er hat Geduld mit mir und mit dir auch.
Liebe Freunde, wir alle sind vor ihm wohl solche Rag Dolls, solche Lumpenpuppen und leben inmitten anderer Lumpenpuppen. Wir können Gott gemeinsam loben und preisen, dass er uns Jesus, den guten Hirten geschickt hat, der nicht aufhört uns zu suchen, bis er uns gefunden und heimgebracht hat. Wir können ihm danken, dass er uns kennt und darum liebt. Und wir können zu anderen auch so sein.
Amen

Predigt von Hans Löhr im Lichtblickgottesdienst am 20. Oktober 2013

Hier der Link zum Song „Rag Doll

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