Donnerstag, 27. Oktober 2016

Wann wird es Tag? hl

Losung: Denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen! Sacharja 7,10

Lehrtext: Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht, auch nicht der Kopf zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind eben jene Glieder des Leibes, die als besonders schwach gelten, umso wichtiger. 1.Korinther 12,21-22

Liebe Leserin, lieber Leser,

Ein Rabbi stellte seinen Schülern einmal folgende Frage: "Wann erkennt man, dass es Tag wird?"
Einer antwortete: "Vielleicht dann, wenn man einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?" Der Rabbi schüttelte den Kopf. "Oder vielleicht dann, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann?" Der Rabbi schüttelte wieder den Kopf.
"Aber wann beginnt denn dann der Tag?" Der Rabbi antwortete: "Dann, wenn ihr in das Gesicht eines beliebigen Menschen schaut und darin eure Schwester oder euren Bruder erkennt. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns."

Diese Geschichte nimmt auf, was Friedrich Schiller gedichtet und Ludwig van Beethoven komponiert hat: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium… alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ (=Europahymne). Angst und Hass trennen. Freude und Vertrauen verbinden. Sie sind die Voraussetzung, dass ein Mensch im anderen den Bruder, die Schwester erkennen kann.
Aber sind wir Menschen alle tatsächlich Geschwister? Sind auch Afrikaner und Chinesen, Muslime und Homosexuelle, Atheisten und Juden meine Brüder? Von mir aus gesehen nicht. Doch in dem Gedicht von Friedrich Schiller heißt es auch: „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Ich möchte das anders ausdrücken. Für mich wohnt Gott nicht über einem fernen Sternenzelt, sondern bei mir und in mir auf der Erde.
Aber darin stimme ich Schiller zu, dass Gott der Vater aller Menschen ist, und wir alle demzufolge seine Kinder und darum untereinander Brüder und Schwestern. Wir sind das von Gott aus gesehen und darum Menschengeschwister im Glauben, auch wenn viele, vielleicht die meisten das nicht glauben. Das ist so ähnlich wie mit unserem Grundgesetz, in dem es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Auch dieser Satz gilt für alle Menschen, unabhängig davon, wer ihn glaubt oder befolgt.
Natürlich sind wir Menschen verschieden, aber „Verschiedenheit ist kein Grund für Ausgrenzung.“ (Carolin Emcke) Und dass ich einem anderen das gleiche Lebensrecht zubillige wie mir, setzt nicht voraus, dass er mir ähnlich sein muss. Die Menschheit ist ein Leib genauso wie die Christengemeinde (Lehrtext). Es können nicht alle Auge sein oder Kopf. Der Leib braucht auch Hände und Füße und alle anderen Glieder, die sich unterscheiden und doch zusammenwirken, damit das große Ganze sein kann. Nur als Verschiedene können wir eine Gemeinschaft sein, in der einer für den anderen da ist und ihn bereichert.
Gott hat uns als Verschiedene geschaffen. Wie langweilig und armselig wäre auch das Leben, wären alle Menschen so wie ich. Als Verschiedene sind wir seine Kinder und für einander Brüder und Schwestern. Das zu akzeptieren, ist nicht einfach. Das muss gelernt werden, indem man einander begegnet und miteinander ins Gespräch kommt. Das Zusammenleben der Verschiedenen geht nicht ohne Konflikte ab. Damit Menschen verschiedener politischer Einstellung, unterschiedlicher kultureller Prägungen und mit anderen Religionen miteinander auskommen können, müssen sie sich so sehen, wie es der heutige Lehrtext sagt: Als verschiedene Glieder an einem Leib, die zusammengehören und aufeinander angewiesen sind. Und dazu braucht es die Bereitschaft, sich immer wieder einmal in die Lage des Anderen zu versetzen, um mich und mein Leben mit seinen Augen zu sehen.
So und nur so haben wir als Menschengeschwister und Gotteskinder eine gemeinsame Zukunft.
Wann wird es Tag? Wenn du im Gesicht eines anderen Menschen den Bruder oder die Schwester erkennst.

Gebet: Herr, du siehst seit Kain und Abel wie schwer sich der Bruder mit dem Bruder tut. Du siehst tief in mir die Skepsis gegenüber dem, der anders ist als ich und damit infrage stellt, dass allein meine Weltsicht, mein Glaube, meine Werte gültig sind. Doch damit erlöst du mich davon, totalitär sein zu müssen. Ich muss mich nicht mehr ständig selbst behaupten. Muss nicht mehr immer rechthaben. Muss mich nicht in mir selbst einsperren. Du gibst mir den fremden Bruder als Chance, dass ich mich öffnen und mit ihm austauschen kann. So machst du uns beide reicher und freier. Amen

Herzliche Grüße

Ihr / dein Hans Löhr 

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