Sonntag, 15. November 2020

»Nachts schlafen die Ratten doch« (Predigt) hl

Volkstrauertag 2020.  Predigtwort: »Liebet eure Feinde!« (Jesus)

Liebe Gemeinde, 

wie jedes Jahr, so gedenken wir auch heuer wieder der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft nicht nur in unserem Land, sondern weltweit. Wir hier in Deutschland denken dabei zuerst an die finstere Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Aber es reicht nicht, dass wir trauern und des Vergangenen gedenken. Vielmehr müssen wir auch daran denken, was zu tun ist, damit so etwas nicht wieder passiert. Und das hat ganz viel mit unserer eigenen, inneren Einstellung zu tun und damit, wie unser Denken vom Elternhaus, von der Schule, von der Kirche und von der Gesellschaft geprägt worden ist und noch heute beeinflusst wird.

 Wie ihr vielleicht wisst, bin ich ein entschiedener Kriegsgegner und Kritiker jeder Art von militärischer Gewalt. Aber das war nicht immer so. Und darum will ich davon erzählen, wie ich zu dieser Einstellung gekommen bin. Warum ich in einer Predigt dazu spreche, hat damit zu tun, dass mein Glaube die entscheidende Rolle für meine Einstellung spielt. Wie ihr darüber denkt, ist eure Sache. Aber ich meine, auch ihr solltet euch damit auseinandersetzen, inwiefern euer Glaube zu eurer Einstellung gegenüber Krieg und Militär passt.

 Mein Vater war Oberleutnant im Zweiten Weltkrieg. In seinem Zimmer hing bis zu seinem Tod ein Foto, das ihn in Uniform zeigte. Und daneben hing ein Kästchen, in dem seine Kriegsauszeichnungen zu sehen waren. Sein Wunsch war, dass auch ich einmal Berufssoldat würde und damit die Laufbahn einschlagen möchte, die ihm durch die militärische Niederlage Deutschlands verwehrt war.

Landser Hefte und Kriegsspielzeug

 Zum Geburtstag und zu Weihnachten bekam ich Spielzeugpanzer, Haubitzen oder einen Jeep. Als ich größer wurde, habe ich als Kind die berüchtigten Landser-Heftchen verschlungen, in denen völlig unkritisch die angeblichen Heldentaten der deutschen Soldaten auf verschiedenen Schlachtfeldern verherrlicht wurden. Von meinem Taschengeld habe ich mir dann selbst kleine Panzer, Kanonen und Lastwagen aus Plastik gekauft. 

     Dann kam ich ins Gymnasium. Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, lasen wir im Deutschunterricht Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert, einem jungen Schriftsteller, der die Schrecken des Krieges beschrieb und bereits zwei Jahre nach Kriegsende mit gerade mal 26 Jahren seinen Kriegsleiden erlegen ist.

 Eine seiner Geschichten heißt »Nachts schlafen die Ratten doch«. Sie hat mir damals die Augen geöffnet über das unsägliche Leid, das Militarismus  und Krieg über die Menschen gebracht hatten. Darin erzählt Borchert von einem neunjährigen Jungen namens Jürgen, der auf dem Trümmerhaufen seines zerbombten Hauses sitzt. Ein Mann kommt vorbei und fragt, was er da mache. Schließlich sagt Jürgen, er sei schon ein paar Tage und Nächte hier, weil er auf seinen toten Bruder aufpassen müsse, der hier verschüttet sei. Als der Mann nachfragt, was das nütze, sagt Jürgen, er wisse von seinem Lehrer, dass sich die Ratten von Toten ernähren würden. Aber er wolle nicht, dass sein toter Bruder von Ratten aufgefressen wird. Deshalb sitze er hier und halte Wache. Und da sagt der Mann den Satz, der dieser kleinen Geschichte den Titel gegeben hat: »Aber Jürgen, nachts schlafen die Ratten doch.« So versucht er den Jungen mit einer frommen Lüge wieder behutsam ins Leben zurückzuholen und verspricht ihm, eines seiner Kaninchen zu zeigen. Damit endet die Geschichte.

Ich weiß auch nicht, warum mich diese kleine Erzählung damals so erschüttert hat. Aber das ist mir noch heute klar: Die Schrecken von Krieg und Gewaltherrschaft kann man zwar in Zahlen fassen, zum Beispiel über 55 Millionen Tote weltweit im Zweiten Weltkrieg, oder 1,2 Millionen ermordete jüdische Kinder in den Vernichtungslagern oder 2007 Behinderte, darunter viele Kinder, die damals im Bezirkskrankenhaus in Ansbach umgebracht worden sind. Viele von ihnen hat man einfach qualvoll verhungern lassen. Das sind alles Zahlen. Aber dahinter verbergen sich Einzelschicksale, und erst wenn die Opfer einen Namen bekommen und eine persönliche Geschichte haben, wird das ganze Leid deutlich und du kannst es nachempfinden. In meinem Fall war es der neunjährige Jürgen. Ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat, wie Borchert sie erzählt, ist unerheblich. Sie ist auf jeden Fall nachvollziehbar und auf die eine oder andere Weise vielfach passiert.

Meine Bekehrung

 Ich habe danach noch andere Geschichten von Wolfgang Borchert gelesen und die Romane von Erich Maria Remarque und Heinrich Böll. Besonders nahe gegangen ist mir auch der Film „Die Brücke“ von Bernhard Wicki. Daraufhin war ich bekehrt. Schließlich habe ich dann ein paar Jahre später den Kriegsdienst verweigert. Mir wurde klar, dass junge Menschen in allen Ländern belogen und betrogen werden, damit sie Militärdienst tun und sich im Ernstfall verstümmeln und töten lassen. Und denjenigen, die so lügen und betrügen, ist das meistens gar nicht mal bewusst, weil sie darüber nicht nachdenken oder zu feige sind, sich gegen die Meinung der Mehrheit zu stellen. Und mein Vater? Er hat nach langen Gesprächen schweren Herzens akzeptiert, dass ich nicht zum Militär ging und den Kriegsdienstdienst verweigerte.

 Ich habe schon damals das Gefühl gehabt, dass militärische Gewalt und der Glaube an Jesus nicht so recht zusammenpassen. Oder kannst du dir Jesus in Uniform vorstellen und mit einem Schnellfeuergewehr oder in einem Flugzeug mit Atombomben? Ich konnte und kann das nicht. Aber damals war ich noch nicht in der Lage, das zu begründen. Das hat sich inzwischen geändert. Nach vielen Jahren des Nachdenkens und Lesens in der Bibel bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Krieg und militärische Gewalt mit dem Glauben an Jesus Christus nicht vereinbar sind, weil sie das Gegenteil von dem bewirken, was sie vorgeben zu verhindern. Kein einziger Krieg in der Geschichte der Menschen ist so verlaufen, wie sich das die Verantwortlichen und ihre Gefolgsleute vorgestellt haben. Denn es ist leicht, einen Krieg zu beginnen, aber schwer ihn zu beenden. Das letzte Beispiel dafür ist der Krieg der Amerikaner im Irak und in Afghanistan. Er sollte die Völker demokratisieren und führte doch nur dazu, dass der Terrorismus geradezu explodiert ist und allein im Irak weit über 100.000 Zivilisten ihr Leben haben lassen müssen.

 Krieg ist eine einzige Quelle von Leid für die Menschen auf beiden Seiten, hauptsächlich für die Zivilbevölkerung, für Frauen und Kinder, alte und kranke Menschen. Demgegenüber heißt es unüberhörbar und sonnenklar an Weihnachten: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!« Das ist sozusagen die Überschrift über dem Stall von Bethlehem.

Selig sind die Pazifisten

 Und als das Kind in der Krippe ein Mann geworden war, hat er Sätze gesagt wie diese: „Alle die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ oder „Selig sind, die Frieden machen, denn sie werden Gottes Kinder heißen“. Übrigens, das lateinische Wort für den Ausdruck „die Frieden machen“ heißt „Pacifici“ oder eingedeutscht „Pazifisten“. Ja, ich bin längst ein überzeugter Pazifist und bin froh, dass Jesus diejenigen, die auch so denken und handeln „Kinder Gottes“ nennt.

 Eine letzte, schwache Erinnerung daran, dass es an Weihnachten um den Frieden auf Erden geht, zeigt sich auch darin, dass an diesem Tag die Waffen schweigen sollten, was längst nicht immer der Fall ist. Aber vielleicht sollte das allen, die den Kriegsdienst befürworten, zu denken geben, dass die Christen drei Jahrhunderte lang den Militärdienst verweigerten, so lange, bis das Christentum Staatsreligion wurde und damit an die politische Macht kam. Das war aus meiner Sicht der große Sündenfall der Kirche.

 Was aber ist der eigentliche Grund, warum unser Glaube an Jesus Christus mit militärischer Gewalt nicht vereinbar ist? Es ist das Zentrum der Bibel und des Glaubens, um den alles andere kreist. Und dieses Zentrum heißt Feindesliebe. Kurz und knapp: Wer Christ ist, glaubt an den Gott, der seine Feinde liebt. Darum gibt Jesus uns sein wichtigstes Gebot und sagt:

Das Zentrum der Bibel und des Glaubens

     »Liebt eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen. Bittet Gott um seinen Segen für die Menschen, die euch Böses tun, und betet für alle, die euch beleidigen. Behandelt die Menschen so, wie ihr von ihnen behandelt werden möchtet. Oder wollt ihr etwa noch dafür belohnt werden, dass ihr die Menschen liebt, die euch auch lieben? Das tun selbst die Leute, die von Gott nichts halten. Ist es etwas Besonderes, denen Gutes zu tun, die auch zu euch gut sind? Das können auch Menschen, die Gott ablehnen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und den Menschen Gutes tun. So werdet ihr Kinder des Höchsten sein. Denn auch er ist gütig zu Undankbaren und Bösen. Seid also barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!« (Lukas 6,27 ff.; Matthäus 5,43 ff.)

     Merkwürdigerweise gibt es viele, sehr viele gerade auch in der Kirche, die erklären, warum dieses Gebot bestenfalls eingeschränkt gilt. Warum ist es nicht umgekehrt? Warum predigt man in den Kirchen nicht dieses Gebot und sagt, dass es uneingeschränkt gilt? Man meint vielleicht, es sei unrealistisch. Aber der Krieg? Das Zerfetzten, Verstümmeln, Verbrennen, Erschlagen, Erschießen und Abstechen von Kindern – ist das dann realistisch? Ist das die Wirklichkeit, die wir eben hinnehmen müssen, weil man dagegen nichts tun könne? Hätten alle Christen bis heute weiterhin den Kriegsdienst verweigert wie in den ersten drei Jahrhunderten, sähe die Welt wohl anders aus. Gäbe es weniger Leid und Blutvergießen.

      Ob das möglich ist? In den USA und England gibt es eine evangelische Freikirche mit dem seltsamen Namen die Quäker. Ihre Mitglieder verweigern allesamt den Kriegsdienst. Und als Nazideutschland besiegt war, waren die Quäker die ersten, die Hilfsgüter zu den Menschen nach Deutschland geschickt haben, die eben noch ihre Feinde waren. Das gleiche haben sie schon nach dem ersten Weltkrieg getan. Vielleicht erinnern sich die Alten unter uns noch an die sogenannte „Quäkerspeisung“. Ja, den Kriegsdienst verweigern und die Feinde lieben, das ist möglich.

       Der Mittelpunkt der Bibel und des Glaubens, so habe ich gesagt, ist die Feindesliebe. Gott liebt seine Feinde. Das hat er uns mit Jesus gezeigt. Und das kann nur heißen, wenn Gott seine Feinde liebt, dann verurteilt, bestraft und verdammt er niemanden – niemanden, egal wie der einzelne Mensch lebt und glaubt, egal was er tut und unterlässt. Jeder hier in der Kirche und außerhalb, Christen und Nichtchristen, Gläubige und Atheisten, Muslime, Buddhisten und Juden, alle, die wir mögen und die wir nicht mögen, unsere Freunde und Feinde, sie alle sind von Gott geliebt. Über ihnen allen lässt er seine Sonne aufgehen und lässt es regnen. Keiner von ihnen, keiner von uns ist verloren, sondern, wie ich gestern auf dem Reisachfriedhof gesagt habe: Bei Gott gibt es keine Verlorenen und keine Verlierer.

     Das ist die gute Nachricht, die mit Jesus auf die Erde gekommen ist für alle Menschen. Und er will uns, die wir uns nach ihm Christen nennen, dafür gewinnen, dass auch wir unsere Feinde lieben, damit die Kriege und das Blutvergießen, die Tränen und das Leid endlich aufhören, damit wir keine Volkstrauertage mehr brauchen, sondern alle miteinander auf diesem kleinen Planeten Erde eine Zukunft haben. 

Amen

1 Kommentar:

  1. Zweifellos sehr beindruckend und eine nachvollziehbare Einstellung. Krieg ist allemal eine schlimme Angelegenheit. Allerdings: Wie wäre es weiter gegangen, wenn vor 1945 die Alliierten nicht den Mut gehabt hätten einzugreifen - leider mit weiteren zahlreichen Toten und kaputten Städten? Wie wäre es weiter gegangen mit den einzelnen Völkern im zuvor gewaltsam zusammengehaltenen Vielvölkerstaat Jugoslawien? Beide und letztlich gute Lösungen waren offensichtlich 'nur' durch militärisches und Einhalt gebietendem Eingreifen möglich - leider trotz weiterer zahlreicher Opfer.

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