Effizienz oder Evangelium?
Lieber Hans Löhr,
als ich ein Kind war, hat mir meine Mutter, eine einfache Bäuerin, drei Sorten von Geschichten erzählt: unwahre, halbwahre und wahre. Die unwahren, das waren die Märchen. Sagen und Legenden zählten zu den halbwahren, und die biblischen Geschichten, die konnte man glauben, denn das in ihnen Berichtete ist wirklich passiert.
Ich hörte alle drei Sorten gleichermaßen gern. Aber am liebsten mochte ich die biblischen Geschichten. Sie waren meine eigentliche frühkindliche Literatur und passten am besten zu dem dörflich-protestantischen Milieu, in dem ich aufwuchs, übrigens in unmittelbarer Nachbarschaft zu Röthenbach an der Pegnitz, jenem mittelfränkischen Städtchen, an dem Sie als Gemeindepfarrer in Ihren Beruf starteten. Mein Dorf, Schönberg, heute ein Vorort von Lauf/Pegnitz, ist nur fünf Kilometer von Ihrer früheren Wirkungsstätte entfernt.
Vieles erlebte ich damals, während der fünfziger und sechziger Jahre, ähnlich wie Ulla Hahn es in ihrem autobiografischen Roman „Das verborgene Wort“ beschrieben hatte. Sie erzählt darin ihre Kindheit in einem rheinisch-katholischen Dorf. Sie heißt in dem Roman Hilla und ist das Kind eines bildungsfeindlichen, sprachlosen Hilfsarbeiters und gegen diesen Vater muss sie sich ihre Bildung ertrotzen. Ihr Pech, in eine ungebildete Familie hineingeboren zu werden und in der geistigen Enge eines kleinen katholischen Dorfes der 50er Jahre aufwachsen zu müssen, wurde teilweise kompensiert durch die vorhandene katholische Infrastruktur.
Und durch eine katholische Großmutter. Die erleben wir zwar als derb, rabiat, ungebildet und bigott, sie hatte selten ein freundliches Wort für Hilla, kaum je eine zärtliche Geste, aber sie brachte dem Kind das Beten bei, kaum dass es Wauwau, Bäbä und Hamham sagen konnte. „Lieber Jott, mach misch fromm, dat ich in dä Himmel komm.“ Das Kind liebte diesen Vers, nicht so sehr seines Inhaltes wegen, den es kaum verstand, sondern um des Reimes willen, wegen der Sprachmelodie, seines magischen Klangs, weil er sich anhörte wie ein Zauberspruch. Das dadurch erweckte Gefühl für Reim und Rhythmus ließ das Kind nach weiteren Sprüchen gieren, und die Großmutter brachte ihr gerne viele weitere Gebete und fromme Reime und Heiligensprüche bei.
Im Religionsunterricht und in der Kirche lernt sie das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, die Mantras der Litaneien und Liturgien, Kirchenlieder, viele Texte von hoher sprachlicher Qualität. In der Kirche berauscht sie sich am Klang des Lateins, der „Sprache Gottes“.
„Die Kirche war in so einer armseligen Dorfgemeinschaft der Kulturträger“, sagte Ulla Hahn in einem Spiegel-Interview. „Wo habe ich zum ersten Mal einen schönen Raum gesehen, Überfluss, schöne Gewänder, Kerzen? Wo zum ersten Mal Musik gehört? Worte, die nicht nur zum Schimpfen da waren? In der Kirche. Das war ungeheuer wichtig.“
Das, was Ulla Hahn da im Spiegel-Interview gesagt hat, hätte auch ich sagen können. Auch ich hatte eine ähnliche Kindheit, nur eben in der protestantisch-fränkischen Variante. Die ersten Reime, an die ich mich erinnere, lauten: „Mit Gott fang an, mit Gott hör auf, das ist der schönste Lebenslauf.“
Darum habe ich bis heute nicht vergessen: Ich wäre nicht der, der ich geworden bin, wenn es in meinem fränkischen Dorf nicht einen Pfarrer, eine Gemeinde und die damit verbundene Infrastruktur gegeben hätte. Ich blicke dankbar auf meine von der Kirche mitgeprägte Kindheit zurück, und aus diesem Dank heraus, und weil ich will, dass auch künftig die Kirche im Dorf bleibt, zahle ich gerne meine Kirchensteuern.
Nun höre ich aber aus verschiedenen Landeskirchen, dass auf den Rat von Unternehmensberatern hin jetzt Pfarrstellen gestrichen und Gemeinden zusammengelegt werden, und zwar unter dem Stichwort „Regionalisierung“. Ortsgemeinden solle es auch noch geben, aber von Ehrenamtlichen geleitet. Hauptamtliche sollten nur noch übergemeindlich in der Region tätig sein, Pfarrer brauche man nur noch für die lokale „Grundversorgung“.
Das Einsparen von Pfarrstellen würde man in den Gemeinden nicht merken, denn durch Kooperation in der Region entstünden „Synergieeffekte“. So könne der Konfirmandenunterricht im Kurssystem gehalten werden. Jede Mitarbeiterin habe ein Thema, mit dem sie herumreist und die Gruppen in der Region unterrichtet. Jede Pfarrerin, jeder Pfarrer mache im Monat nur noch eine Predigt und halte sie vier Mal an verschiedenen Orten in der Region.
Die Osterpredigt wird dann also zum letzten Mal kurz vor Pfingsten gehalten, die Weihnachtspredigt kurz vor dem Beginn des Karnevals.
Mit Synergieeffekten sind während der zweiten Hälfte der 90er Jahre die großen Unternehmensfusionen begründet worden. Edzard Reuter war einer der ersten, der den Umbau von Mercedes zu einem integrierten Auto-, Rüstungs- und Technologiekonzern mit Synergieeffekten begründet hat. Als Reuter ging, musste Mercedes zum ersten Mal in der Firmengeschichte Mitarbeiter entlassen und mit einem Verlust von fünf Milliarden Mark fertig werden. Dann kam Herr Schrempp, zerschlug den Konzern, aber nur, um auch wieder um irgendwelcher Synergieeffekte willen zu fusionieren, diesmal mit Chrysler. Seitdem frisst Chrysler die Gewinne auf, die Mercedes erwirtschaftet. Anscheinend besteht darin der Synergieeffekt.
Solche Synergieeffekte sollen nun also auch in der Kirche Mode werden. Der erste Effekt jedoch ist, dass jede einzelne Gemeinde jetzt ihre Existenzberechtigung nachweisen muss. Wenn aber irgend jemand in der Kirche keines Nachweises seiner Existenzberechtigung bedarf, dann ist das die Gemeinde. Und wer zu beweisen hat, dass seine Existenz für die Kirche unbedingt nötig ist, das sind Regionalbischöfe, Bischöfe, Landeskirchenämter und Stabsstellen für Öffentlichkeitsarbeit. Die Kirche kann auf Landeskirchenämter und Stabsstellen für Öffentlichkeitsarbeit und auf vieles andere verzichten, aber nicht auf Gemeinden. Und darum halte ich es für grundverkehrt, die Gemeinden auszudünnen, um mit den Einsparungen die Wasserköpfe zu mästen.
Ich beobachte das Wirken der Unternehmensberater nun seit drei Jahren, zuerst mit Unbehagen, inzwischen mit Entsetzen. Vor drei Jahren las ich, die Berater rieten der Kirche, sich wie Parteien, Gewerkschaften oder gemeinnützige Institutionen als Non-Profit-Unternehmen auf dem Markt der Weltanschauungen und Religionen zu etablieren. Die Kirche müsse ihre „Unternehmensziele“ klarer bestimmen und sich entscheiden, ob sie als „Anbieter auf dem Sinnstiftungsmarkt“ die Nummer Eins bleiben oder „als Nischenanbieter Profil gewinnen“ wolle, las ich. Das „Unternehmen Kirche“ solle „kämpfen um Kundinnen und Kunden“ und „Markt- und Meinungsführerschaft anstreben“.
Weiter las und hörte ich, die Kirche befinde sich auf dem „religiösen Markt“, bedürfe darum eines höheren Grades an „Kundennähe“ und „Kundenorientierung“, einer „Corporate Identity“, und der notwendigen „Konzentration aufs Kerngeschäft“. Das „Produkt“ der Kirche, die Botschaft Jesu Christi, sei zwar zeitlos gut, las ich, aber – so konnte man heraushören – das Verkaufspersonal sei zu dumm und zu unfähig, um das hervorragende Produkt zu vermarkten, im Wettbewerb der „Sinnanbieter“ mache die Kirche daher eine schlechte Figur.
Heute nun beginnen die Ratschläge der Manager aus der Wirtschaft zu greifen. Und – macht die Kirche jetzt eine bessere Figur? Viele Pfarrer aus zahlreichen Landeskirchen erzählen mir, dass sie unter einer wachsenden Papierflut zu ersticken drohen, unter Papier, das von Dekanaten, Kreisdekanaten und Landeskirchenämtern erzeugt wird. Auch sei die Konferenzitis ausgebrochen. Pfarrer beschäftigen sich jetzt hauptsächlich mit sich selber und mit dem von den übergeordneten Dienststellen produzierten Papier.
So genannte Personalentwicklungspläne und Mitarbeitendengespräche, ursprünglich gedacht, um den Mitarbeitenden Aufmerksamkeit, Zuwendung und ein Feedback zu geben, entwickelten sich zunehmend zu einem Kontrollinstrument, mit dem Pfarrer diszipliniert und gegängelt werden, höre ich. Und sogar von Einschüchterungsversuchen, verschärftem Druck von oben bis hin zu Mobbing ist mir erzählt worden, zuerst in meiner bayerischen Landeskirche, da hielt ich es noch für eine Ausnahme. Dann hörte ich es von der Hannoverschen, und immer noch dachte ich: na ja, vielleicht auch nur eine Ausnahme. Letzte Woche hörte ich es auch von den gemütlich-frohsinnigen Rheinländern. Allmählich glaube ich nicht mehr an die Ausnahmen.
Bischöfe, Kirchenkarrieristen und Unternehmensberater bauen meine Kirche offenbar tatsächlich zu einem konzernähnlichen Gebilde um, das in mir nicht mehr den Bruder, sondern den zu betreuenden Kunden und Konsumenten sieht, der, wie der Affe mit der Banane aus dem Urwald, mit kirchlichen Plakataktionen, Events, Wellness-Programmen und PR in die Kirche gelockt werden soll. Damit verbunden ist die Hoffnung, der Kunde werde dafür zahlen und so das finanzielle Überleben der Kirche garantieren. Vor solch einer Kirche graust es mir. Diese Kirche erinnert mich an die mittelalterliche katholische, deren Selbstverständnis ebenfalls von einer Geschäftsbeziehung zwischen Klerikern und Laien geprägt war: „So bald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ Hat Luther gegen den Ablasshandel gekämpft, um ihn jetzt in moderner Form, getarnt mit schick designtem Mäntelchen, von den Beratern wieder einzuschmuggeln?
Kirchenleitungen, welche die Existenz der Kirche dadurch sichern wollen, dass sie ihre Kirche als Nützlichkeits-Organisation etablieren, als Service- und Sinnvermittlungsagentur, als Unternehmen, dessen Wert in ihrer Funktionalität für Einzelne, Gemeinschaften und Staaten liegt, ziehen den Karren nicht aus dem Dreck, sondern fahren ihn noch tiefer hinein. Bischöfe, die den Leuten weismachen wollen, eine Mitgliedschaft in der Kirche rechne sich, zahle sich aus, müssen vergessen haben, dass der Lohn des Christen in dieser Welt das Kreuz ist, und später, vielleicht, der Himmel.
Lieber Pfarrer Löhr, vielleicht irre ich mich ja, vielleicht sehe ich alles ganz verkehrt, nur: Bis jetzt hat mir noch keiner derer, die ich kritisiere, mit überzeugenden Argumenten widersprochen. Die Unternehmensberater schweigen, die Kirchenkarrieristen ignorieren mich und die Bischöfe reden nicht mit mir.
Sie haben vier Jahre lang die Geschäftsstelle des Evangelischen Münchenprogramms eMp geleitet, einen der ersten Versuche, den Rat der Berater in die kirchliche Praxis umzusetzen. Vielleicht können ja Sie mir mit vernünftigen Argumenten auseinander setzen, warum diese Mc-Kinsey-Huberei so dumm nicht ist, wie sie mir erscheint. Ich bin durchaus nicht unbelehrbar und sehe Ihrer Antwort mit Spannung entgegen. Mit besten Grüßen Ihr Christian Nürnberger
Lieber Herr Nürnberger,
„als ich ein Kind war“ – ja, das ist ein guter Anfang für unseren Briefwechsel über die Nöte und Chancen der evangelischen Kirche. Denn auch mein Glaube lernte schon in der Kindheit das Laufen. Allerdings ist mir erst lange nach dem Studium aufgegangen, wie wichtig die Begegnungen mit Menschen für mich und meine Berufswahl waren, deren Glaube bei mir schon früh Spuren hinterlassen hat. Ich denke an Tante Lissi, meine Erzieherin im Kindergarten der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, und an meine Grundschullehrerin, das von mir geliebte Fräulein Pfalzer, beide Missionarstöchter. Ja, in Neuendettelsau bekam man als Kind eine astreine lutherische Sozialisation, auch wenn man nicht aus einer Pfarrfamilie stammte. Als Halbwüchsige versuchten wir, uns davon wieder zu distanzieren. Wir zogen zum Schrecken der Bürger nachts durch die Dorfstraßen und sangen die Internationale. Geholfen hat’s nicht. Ich bin trotzdem Pfarrer geworden. Doch prägender als Diakonissen und Missionarstöchter waren das „Breit aus die Flügel beide“ meiner Mutter am Gitterbett und das Bild vom Engel im langen, weißen Gewand, der zwei am Abgrund spielende Kinder behütet. Meine Großmutter hatte es mir geschenkt, eine maßvoll pietistische Bauersfrau aus einer Sippe Salzburger Exilanten.
Vor gut zwei Jahren bin ich als Landpfarrer wieder zu meinen fränkischen Wurzeln zurückgekehrt, nach elf Jahren als Studentenpfarrer an der Maximiliansuniversität München und weiteren vier Jahren als Leiter der Geschäftsstelle „Evangelisches Münchenprogramm“. Die Versuche, mit Unterstützung der Unternehmensberatung McKinsey, den evangelischen Dekanatsbezirk München zu reformieren, sind im Ansatz stecken geblieben. Zum Glück, wie Sie jetzt denken werden und viele, allzu viele Kirchenleute mit Ihnen. So sehe ich die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Bayern jetzt wieder aus der Perspektive eines Gemeindepfarrers.
Aber nicht deswegen wurde ich zum Briefwechsel mit Ihnen eingeladen, sondern weil ich als ehemaliger „kirchlicher McKinsey-Mann“ ein kalter Prophet der Effizienz zu sein verspreche gegenüber den linden Freunden des Evangeliums.
Nun, ob ich der Richtige bin, das in den Jahren 1995 und 1996 achtzehn Monate währende Engagement der Unternehmensberatung für den evangelischen Dekanatsbezirk München zu verteidigen, sei dahingestellt. McKinsey hat aus meiner Sicht auch Fehler gemacht hat, wobei der gravierendste war, dass man angesichts der kirchlichen Personalsituation die Beratung nicht schon im Anfangsstadium wieder eingestellt hat.
Man hätte sich die Blamage erspart, dass von dem ganzen Unternehmen nur noch ein potemkinsches Dorf übrig geblieben ist. Sehr früh schon war ersichtlich, dass die damaligen Verantwortungsträger im Dekanatsbezirk sich nicht in der Lage sahen, die Vorschläge des Münchenprogramms komplett umzusetzen – zur Enttäuschung der Laien in den Synoden. Die internen Probleme waren stärker als die Kräfte des Aufbruchs. Die Kritik, dass mit McKinsey auf der einen und der evangelischen Kirche auf der anderen Seite zwei sich wesensfremde Kulturen aufeinander prallen, war allzu berechtigt. Wobei ich im Gegensatz zu den Kritikern der Auffassung bin, dass der Kirche eine Kulturrevolution gut getan hätte. Denn dass sie sich aus dem kläglichen Zustand ihrer Gremienkultur, der Kultur des Umgangs mit Mitarbeitenden und Finanzen, ihrer Arbeitskultur und Leitungskultur selbst erlösen kann, ist weder wahrscheinlich noch bekenntnisgemäß.
Aber nachdem sich Fisch und Maus nach einigem Geziere füreinander erwärmt hatten und auf der grell ausgeleuchteten Medienbühne die ersten Tanzschritte wagten, wollte schon aus Eitelkeit keiner von beiden gleich wieder abtreten. Und dann war da noch ein Grund, weshalb McKinsey nicht gleich wieder ausgestiegen ist. Die Kirchenleute waren zwar keine Angehörigen des Konzerns McKinsey. Die Beraterinnen und Berater aber waren und sind zumeist Mitglieder der Kirche, oft sogar ehrenamtliche Mitarbeiter: Kirchenvorsteher, Posaunenchorbläser, ehemalige Jugendleiter und so weiter. So verstanden sie auch die unentgeltliche Beratung als ehrenamtliches Engagement. Übrigens, mich hat immer wieder gewundert, wie selbstverständlich die Kritiker für sich in Anspruch nehmen, warnend die Stimme als gute evangelische Christen zu erheben und dabei außer Acht lassen, dass auch Mitarbeitende von McKinsey getauft sind und ihren Glauben leben.
Nun ja, ganz spurlos ist das Tête-à-tête von McKinsey und Kirche an Letzterer nicht vorüber gegangen. Statt weniger haben wir in München jetzt mehr Prodekanatsbezirke. Ziel war, dass die Dekane kleinere Führungsspannen haben und sich intensiver den hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeitenden widmen können. Und auch in der Landeskirche wurden, wie Sie wissen, Jahresgespräche für Pfarrerinnen und Pfarrer eingeführt. Das Münchenprogramm sei „die Mutter der Personalentwicklung“, sagte einmal der zuständige Oberkirchenrat. Ob und wie das geschieht, steht auf einem anderen Blatt. Ich selbst habe noch nichts davon gemerkt. Nur, bei aller berechtigten Kritik an Kirchenleitung auf den verschiedenen Ebenen, dass bei diesen Gesprächen Pfarrerinnen und Pfarrer sich schurigeln lassen, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ein Dekan ist im Grunde arm dran. Wenn ein Pfarrer nein sagt, wozu auch immer, dann ist er schon nahezu am Ende seiner Möglichkeiten. Doch warum sollte ich mich einem solchen Gespräch verweigern? Der Vorgesetzte und ich haben die Chance, über meine Arbeit zu sprechen, ich kann mir, wenn nötig, Unterstützung geben lassen und wir geben uns gegenseitig (!) Rückmeldung, wie jeder die Arbeit des anderen einschätzt. Es würde sogar die Möglichkeit bestehen, dass man in einem Dekanatsbezirk gemeinsam vereinbarte Ziele verfolgt und sich bei der Umsetzung gegenseitig hilft. Doch faktisch geschieht das nur in Ausnahmefällen. Es ist nach wie vor beliebig, wo ein Pfarrer, eine Pfarrerin gerade ihren Arbeitsschwerpunkt setzt, ob in der Mission, in der Musik, im privaten Studium, in der Homepageprogrammierung, in der Liturgie, in der Erwachsenenbildung oder im Versuch, den Großen und Kleinen in der Gemeinde ein guter Hirte (Pastor) zu sein. Die postmoderne Beliebigkeit ist unser großer interner Feind, der so gern im Schafspelz der evangelischen Freiheit daherkommt.
Deshalb kann ich alle beruhigen, die tief besorgt sind, dass das Gespenst des Wirtschaftsliberalismus via McKinsey Einzug halten könnte in die Ämter und Amtszimmer unserer Kirche. Diese Gefahr ist von den verschiedenen alten und neuen Interessengruppen in unserer Landskirche erfolgreich abgewehrt. Auch Angehörige der theologischen Fakultäten haben die Barrikade tapfer verteidigt. Aber dieser ideologische Gespensterkampf hat den Blick darauf verstellt, worum es hauptsächlich ging. Das Münchenprogramm hatte den Mitarbeitenden in den Gemeinden Instrumente an die Hand geben, mit selbst beschlossenen Zielen und Konzepten erfolgreicher zu arbeiten. Das ist im Anfangsstadium durchaus gelungen. Alle inhaltlichen Entscheidungen waren nach wie vor beim Kirchenvorstand geblieben. Doch schon der Begriff „Erfolg“ hat uns verdächtig gemacht. Er käme im Neuen Testament nicht vor, hieß es.
Die Argumente ähneln denen, die auch Sie vorgebracht haben: Es herrscht die Sorge vor, dass, wie Sie schreiben, Kirche zu einem „konzernähnlichen Gebilde“ umgebaut wird. Und dass sie in den Menschen nur noch Kunden und Konsumenten von Sinnstiftungsprodukten sieht. Doch für den Bereich, den ich überblicke und mitverantwortet habe, kann ich sagen, es handelt sich dabei mehr um ein semantisches Problem. Ich sehe nicht, dass Kirche in ihrer Praxis durch Unternehmensberater entstellt worden wäre. Vielleicht war es ein Fehler, dass wir für die angestrebte Erneuerung Begriffe aus dem Bereich der Betriebswirtschaft verwendet haben. Trotzdem hielt und halte ich es für richtig, mit der Brecht’schen Kategorie der Verfremdung zu arbeiten. Damit werden Neugier, Interesse und konstruktive Kritik an Veränderungsprozessen provoziert und Neuorientierungen auf den Begriff gebracht.
Das Wort „Kundenorientierung“ war und ist so ein Reizwort, das auch Sie in Harnisch bringt. Wir haben es dann in der Geschäftsstelle leider zu „Mitgliederorientierung“ abgeschwächt, was uns wenig genützt hat. Denn nun wurde uns voll Empörung entgegen gehalten, dass Christen weder Kunden von noch Mitglieder der Kirche seien, sondern Brüder und Schwestern oder Gemeindeglieder. Doch erstens kommt das Wort Mitglieder sinngemäß aus den Paulusbriefen, wo der Apostel im Korintherbrief schreibt, dass ein einzelnes Glied nur mit den anderen Gliedern zusammen den Leib Christi bildet. Und zweitens besagt Kundenorientierung im Wirkungsbereich des Evangelium das, was Jesus zu dem Blinden von Jericho sagt: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lukas 18,41). Leider wird der Kundenbegriff oft einseitig monetär verstanden: Kunde sei einer, der Geld bringt. Doch „Kunden sind Menschen mit ähnlichen Wünschen, Bedürfnissen, Anliegen oder Problemen, die gelöst werden sollen. Ein Kunde ist jemand, der etwas von dem hören bzw. bekommen möchte, was ihm kundgetan wird“ (www.iakkindt.de/kundenor.htm). Für unsere Arbeit im Münchenprogramm war der Begriff Kundenorientierung ein Schlüssel, um Türen zu den Menschen zu öffnen, für die wir als Kirche einen Auftrag haben. Er ist im Sinne der oben genannten Jesus-Frage auch für meine Arbeit in einer Landgemeinde hilfreich.
Was heißt nun Kundenorientierung in Sommersdorf und den dazu gehörenden 17 Dörfern? Lassen Sie es mich an der Arbeit für die Kinder unserer Gemeinde darstellen. „Als ich ein Kind war.“ Nicht von ungefähr haben wir unsere ersten beiden Briefe so begonnen. Ja, die Kinder haben von der Kirche, mit und ohne Unternehmensberatung, alle Aufmerksamkeit verdient, einfach weil sie Kinder sind und somit die Schwächsten in einer von Geld und Gewalt dominierten Welt. Deshalb soll in der Kirche die Arbeit für Kinder Priorität haben. Schon in meiner Zeit im Münchenprogramm habe ich in Vorträgen immer wieder die These vertreten, dass es für Kirchengemeinden von Sylt bis Berchtesgaden, wie unterschiedlich sie auch sonst sein mögen, diesen Arbeitsschwerpunkt geben soll.
Wer überzeugt ist, dass der Glaube für einen Menschen das größte Geschenk ist, das man ihm weitergeben kann, der wird sich von selbst um die Kinder bemühen, da bei ihnen die Chance am größten ist, in den Glauben und später auch einmal in die Gemeinde und Kirche hineinzuwachsen. Also haben meine Frau, mit der ich mir eine Pfarrstelle teile, und ich uns Ziele gesetzt. Wir wollten die Zahl der Kinder in den Kindergottesdiensten, Krabbelgottesdiensten und Familiengottesdiensten deutlich erhöhen. Wir wollten möglichst vielen die Chance geben, Evangelium beim gemeinsamen Feiern und Beten zu erleben. Wir wollten so auch mit ihren, zum Teil kirchenfernen Familien besser in Kontakt kommen.
Würden wir in der Gemeindepraxis schaffen, was wir in der Theorie des Münchenprogramms mit Verve vertreten hatten? Wir begannen damit, dass wir uns persönlich um die Mitarbeitenden kümmern und mit ihnen zusammen die Angebote für Kinder vorbereiten. Zusätzlich fahren wir mit ihnen einmal im Jahr für einen Tag weg, um über das operative Tagesgeschäft (McKinsey-Jargon!) hinaus strategisch zu planen und Mitarbeitende fortzubilden. Entscheidend sind dabei der Vorsatz und die Bereitschaft, das, was besprochen und geplant wird, auch tatsächlich umzusetzen.
Sie mögen vielleicht fragen, was daran so besonders ist. Nun, das ist so ein Teil der Kulturrevolution, von der ich oben geschrieben habe. Im Münchenprogramm habe ich gelernt, erstmals in der Kirche mit fünfspaltigen Aufgabenlisten zu arbeiten: Was ist zu tun?, Wer macht es?, Wer macht noch mit?, Bis wann wird es getan? Ist es getan worden? Kurz: Was? Wer? Mit wem? Bis wann? Okay? Das ist zwar banal, führt aber dazu, dass hauptsächlich nur noch über das geredet wird, was auch umgesetzt wird. Für mich eine neue Erfahrung, die ich in jahrelanger Gremienarbeit einer „versessenen Kirche“ (ehem. EKD-Ratsvorsitzender Engelhardt) bisher noch nicht gemacht hatte. „Quasselbude“ hatte ein Repräsentant der Unternehmensberatung im Affekt den hochrangig besetzten Lenkungsausschuss des Münchenprogramms genannt. Wir Kirchenleute waren beleidigt – zu Unrecht.
Doch zurück zu unserem Klausurtag mit den Mitarbeitenden im Kinderbereich: Wir fragten nach den Bedürfnissen, Wünschen und Interessen unserer Zielgruppe. (Wieder so ein schreckliches Wort!) Wir arbeiteten eine Marketingstrategie aus. (Kann man auch unverfänglicher ausdrücken, aber ich mag nicht.) Und wir fokussierten Produkt und Kunden (jetzt übertreibe ich), will sagen: wir beteten um Gottes Segen für unsere Arbeit und die Kinder. Heraus kam eine systematische „Angebotssteuerung“: Ein überarbeiteter Kindergottesdienst, ein eigener Krabbelgottesdienst für die Kleinsten, unterhaltsame und stimmungsvolle Familiengottesdienste, eine ökumenische Kindersegnung für die Schulanfänger, eine Adventsnacht für Kinder, ein Kindersommerfest, Geburtstagskarten für Kindergottesdienstkinder, persönlich gestaltete Tauffeiern und Tauferinnerungsbriefe zum Tauftag in den ersten fünf Lebensjahren, viele Kontakte mit zum Teil kirchenfernen Eltern, die für punktuelle Mitarbeit gewonnen werden konnten, und Spaß am Religionsunterricht in der Grundschule.
Fast alles wird in einem Team mit Ehrenamtlichen, oft Angehörige der Kinder, vorbereitet und durchgeführt. Nichts von alledem haben wir neu erfunden. Das meiste gibt es in der Kirche schon seit vielen Jahren. Neu ist, dass wir ein Gesamtkonzept für die Arbeit mit Kindern haben. Jetzt greift alles ineinander. Wir drehen nicht planlos mal an der einen oder anderen Schraube. Diese Arbeit hat in unserer Gemeinde Priorität, was auch in den finanziellen Mitteln zum Ausdruck kommt, die wir dafür investieren. Der Erfolg hat unsere Erwartungen deutlich übertroffen. Gott war wieder mal großzügiger, als wir glaubten. Die Mitarbeitenden sind durch die vielen Kinder jetzt zwar mehr herausgefordert, aber sie haben auch deutlich mehr Freude an ihrer Arbeit.
Ich hoffe, dass dieser Arbeitsschwerpunkt nicht nur dem einzelnen Kind zugute kommt, sondern auch unserer Gemeinde im Ganzen. Wir wollen sie auf diese Weise von unten aufbauen, damit wir in wenigen Jahren auch eine gute Grundlage für die Jugendarbeit haben. Und vielleicht werden die Kinder von heute später einmal als Erwachsene ihren Glauben leben, ihrer Gemeinde verbunden bleiben, gern mitarbeiten und sie aus Überzeugung finanziell unterstützen. „Machen“ können wir das nicht. Doch wir können dafür beten und die Voraussetzungen dafür schaffen. Das, so meine ich, ist eine passende Antwort auf die verunsichernde Spardebatte mit ihren „Giftlisten“. Das ist strategisches Sparen, wo man, im Unterschied zur kopflosen Rasenmähermethode, in verheißungsvolle Prioritäten investiert, was man bei dem, was nachrangig ist, an Zeit und Geld einspart.
So viel fürs Erste. Ich bin gespannt auf Ihren zweiten Brief.
Herzlich grüßt Sie aus Sommersdorf
Ihr Hans Löhr
Warum McKinsey für die Kirche keine Lösung ist
Lieber Hans Löhr,
der Kirche laufen die Mitglieder davon, Jugendliche gehen erst gar nicht hinein, die Kirche vergreist. Sie versucht schon lange, das Problem zu lösen, jedoch vergeblich. In ihrer Ratlosigkeit holte sie sich Rat von professionellen Unternehmensberatern. Wenn guter Rat teuer ist, dachte man im Umkehrschluss, muss teurer Rat gut sein.
Und? War er denn gut? Ja, sagen Sie, er war schon nicht schlecht, aber er traf auf schlechte Ohren, und darum wurde er nur schlecht umgesetzt. Wenn sich die „verschiedenen alten und neuen Interessengruppen in unserer Landeskirche“ beratungsresistent zeigen, dann, so argumentieren Sie, nützt der beste Rat nichts.
Also: Nicht die Berater, sondern die vielen Gruppen und Grüppchen, die in der Kirche ihr je eigenes Süppchen kochen, sind schuld, dass das Evangelische München Programm letztlich gescheitert ist. Ich glaube Ihnen sofort, dass es in der Kirche zu viele köchelnde Grüppchen gibt, aber dass der Versuch scheitern wird, diesen vielen Groß- und Kleinköchen einen Drei-Sterne-Meisterkoch vorzusetzen, der ab sofort bestimmt, wie ab jetzt in der ganzen Kirche gekocht wird, hätte ich Ihnen auch schon vor fünf Jahren sagen können, als man mit dem Versuch begann.
Aber verlassen wir die Ebene der Metaphern, werden wir konkret. Worin bestand denn der Rat der Berater? Wenn ich es richtig sehe, aus zwei Teilen. Teil eins umfasste eine Summe von Ratschlägen, die gut waren, aber zu teuer, Teil zwei eine Summe von Ratschlägen, die teuer waren, aber nicht gut.
Schön der Reihe nach sage ich zum ersten Teil: Gemeinde ist immer auch etwas handfest Materielles. Da gibt es Arbeit, die muss geplant, organisiert und gemacht werden. Die Finanzen brauchen Kontrolle, das äußere Erscheinungsbild der Gemeinde braucht Gestaltung, das Gemeindeleben braucht Öffentlichkeit. Alle diese Aufgaben, die heute unter dem Begriff „Management“ subsumiert werden, waren immer schon zu erledigen, seit es überhaupt Gemeinden gibt. Man kann sie gut erledigen oder schlecht.
Das weiß man eigentlich immer schon, dafür hätte es keines teuren Rates bedurft. Und weil das bekannt ist, gibt es beispielsweise in der Bayerischen Landeskirche schon lange das Amt für Gemeindedienst, das Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern genau bei diesen alltäglichen Managementaufgaben helfen will. Sollten Unternehmensberatungen besser als das Amt für Gemeindedienst in der Lage sein, die kirchlichen Mitarbeiter auf Vordermann zu bringen und sie zu lehren, wie man effizient managt, hätte ich keine prinzipiellen Einwände gegen den Rat der Berater, falls er bezahlbar bleibt. Billiger und effizienter wäre es wahrscheinlich, das Amt für Gemeindedienst so auf Vordermann zu bringen, dass es die kirchlichen Mitarbeiter besser auf Vordermann bringen kann.
Ob nun so oder so: Effizienz und Professionalität schaden nie. Ich wäre blöd, wenn ich daran etwas auszusetzen hätte, werde aber manchmal von denen, die ich kritisiere, als genau dieser Blödian hingestellt, der sich gegen das Walten der Vernunft und Wirtschaftlichkeit in der Kirche wehrt.
Wogegen ich mich wehre, ist etwas anderes, und da komme ich nun zum zweiten Teil des Rats der Berater. In diesem zweiten Teil wird der Kirche als Ganzer geraten, sich wie andere Großorganisationen zu verstehen und sich auch so zu gebärden. Und nun werde ich ganz konkret: Eine der Früchte der Beratung war eine bundesweite Plakat- und Anzeigenaktion der EKD. Mit den Plakaten und Anzeigen wollte die EKD „gemeinsam Antworten finden“ auf Fragen wie: „Woran denken Sie bei Ostern?“ An „Ferien“? „Cholesterin“? „Auferstehung“? Oder „Langeweile“?
Mit Plakaten, Anzeigen, einer Telefon-Hotline und Internet-Angeboten wollte die EKD von März bis August Aufsehen erregen. Und am 12. Mai (Muttertag) sollte es in allen evangelischen Dorf- und Stadtkirchen einen „bundesweiten Erdbeerkuchen-Sonntag“ geben.
Und – hatte die Kirche Aufsehen erregt? Falls ja, ist das Aufsehen nicht bis zu mir vorgedrungen, und am Muttertag suchte ich in Mainz vergebens nach Erdbeerkuchen-Events. Wahrscheinlich hätte es mehr Aufsehen erregt, wenn Präses Kock die Millionen, die diese Kampagne gekostet hat, in kleinen Scheinen vom Turm der Gedächtniskirche auf die Berliner Obdachlosen hinabgeworfen hätte.
Jetzt kann man weiterfragen: Warum will denn die Kirche ins öffentliche Bewusstsein? Weil sie die „Randständigen“ wieder ein bisschen enger an sich binden möchte, also jene, die der Kirche noch nicht ganz den Rücken gekehrt, aber sich sehr weit entfernt haben, die Karteileichen – also Leute wie mich. Ich zahle Kirchensteuer, habe meine Kinder taufen lassen, werde sie konfirmieren lassen, aber in der Kirche bin ich in den letzten 20 Jahren keine zehnmal gewesen. Ich bin also die Zielgruppe, der Adressat der Kampagne. Und? Wie kam sie bei mir an?
Ich glaube, dass ich sie schon verstanden habe. Jedes Kind kennt den Papst, aber keines kennt Mark Hanson, den neuen Präsidenten des Lutherischen Weltbundes. Fast jeder in Deutschland kennt die Kardinäle Ratzinger, Lehmann und Meisner, aber man frage mal in einer x-beliebigen Fußgängerzone nach Hans Christian Knuth, dem Vorsitzenden der VELKD. Und man frage, was diese Abkürzung bedeutet. Der einzige bundesweit bekannte Protestant ist der Fernsehpfarrer Fliege, aber bei dem ist nie ganz klar, ob er die Botschaft ist oder ob er eine hat.
Wenn Protestanten sich nicht einigen können, teilen sie sich lieber, als dass sie sich einer obersten Instanz fügen, die einfach autoritär entscheidet, was wahr sein soll. Protestanten war die Wahrheit seit jeher wichtiger als ihre Einheit. Das machte sie sympathisch und respektabel, führte aber zu immer weiteren Teilungen, sodass es mittlerweile 136 lutherische Kirchen in 76 Ländern gibt, und dazu noch die eine katholische.
Nur sie erfreut sich weltweiter Bekanntheit. Die anderen 136 Schrebergartenkirchen mögen ihre Gründe haben für ihre jeweiligen Eigenheiten, bezahlt wird dieses Insistieren auf die feinen Unterschiede mit mangelnder öffentlicher Aufmerksamkeit, stetig sinkender Bedeutung und einer Zersplitterung der einen Wahrheit in viele Teile. Statt einer Wahrheit haben Protestanten nur Toleranz zu bieten.
Ihre Toleranz lässt die Evangelischen aufgeklärter erscheinen als die katholischen Dogmatiker, die um der Einheit willen an Glaubenssätzen und Vorschriften festhalten, welche der moderne Mensch für unsinnig zu halten sich angewöhnt hat. Aber wegen dieser erzwungenen Einheit und wegen des gewaltigen Theaterdonners, den zu entfachen Rom noch immer imstande ist, kennt der moderne Mensch das katholische Personal viel besser als das protestantische. Eine Truppe, ein Kopf, eine Botschaft, gelegentliche Provokationen zu Abtreibung, Pille und Zölibat, dazu die katholische Lust an Farbe, Weihrauch und Multimedia – da weiß man, was man hat.
Dagegen wir, die Protestanten: 136 Trüppchen, 136 Köpfchen, die auch noch dauernd wechseln und viel bleiches Papier mit diffusen Botschaften vollschreiben, da kennt sich kein Mensch mehr aus. Eine „Einheit in der Vielfalt“ kann das Fernsehen nicht filmen. Der vielstimmig-matte Chor aus mausgrauen Gremien und Synoden der zersplitterten Welt-Protestanten-Chaostruppe muss daher in unserer medialen Bilderwelt jämmerlich untergehen. Und ein williger Redakteur, der ja gerne etwas bringen würde über die Lutherischen, weiß nie genau, wo er eigentlich anrufen soll.
Dank teurer Berater aus der Wirtschaft hat die EKD dieses Problem erkannt und will es nun mit Hilfe teurer Kampagnen und Events lösen.
Die Plakatkampagne mit den Erdbeerkuchenevents hat sich die Werbe-Agentur Melle Pufe ausgedacht. Deren Kreativdirektorin hat dazu gesagt, Protestanten stellten Fragen. Die Frage sei der „Markenkern des Protestantismus“.
Habe ich so noch nie gehört, ist aber ehrlich, sympathisch und überflüssig in einer Gesellschaft, der es nicht an Fragen mangelt, sondern an Antworten. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, hat Jesus gesagt, aber sein Bodenpersonal lässt miteilen: Wir kennen weder den Weg, noch die Wahrheit, vom Leben verstehen wir auch nicht so viel, aber wir haben Erdbeerkuchen und jede Menge Fragen.
Und hier steckt nun wirklich der Kern meiner Kritik. Fragen habe ich selber zu Genüge, und orientierungslos bin ich auch schon. Eine Kirche, die auch nur noch Fragen hat, brauche ich nicht.
Nun werden viele Kirchenleute ausrufen: Stimmt ja gar nicht, dass wir nur Fragen haben, das sagt ja nur diese Kreativdirektorin.
Daraufhin frage ich verblüfft: Das Bild, das sich diese Kreativdirektorin von der Kirche macht, ist also falsch?
Und es schallt mir vielstimmig entgegen: Ja, eindeutig ja, es ist falsch, wir haben auch Antworten, nicht nur Fragen.
Und warum lässt die Kirche dann zu, dass eine Werbeagentur mit ihrem falschen Bild von der Kirche öffentlich ein Bild der Kirche malt? Und warum zahlt sie dafür auch noch einen Millionenbetrag?
Und weiter muss ich fragen: Hat sie nicht Recht, die Kreativdirektorin? Liegt ihre Wahrnehmung nicht näher an der Wahrheit als die Selbstwahrnehmung der Kirchenleute? Wie lautet denn die Antwort der Kirche heute?
Darauf bekomme ich gesagt: Lies sie doch nach. Das Evangelium ist unsere Antwort. Und damit geht man zur Tagesordnung über, redet sich ein, man habe ein tolles Produkt, nämlich das Evangelium, und was schlecht ist, sei nur die Verpackung und „die Verkaufe“, also redet man jetzt nur noch – seit fünf! Jahren – über die Verpackung und „die Verkaufe“.
Darüber sind alle glücklich, weil sie jetzt endlich der lästigen Aufgabe enthoben sind, sich ums Erstrangige zu kümmern. Statt sich der schwierigen, ja vielleicht unlösbaren Aufgabe zu stellen, die höchst klärungsbedürftigen Fragen des Evangeliums für heute zu klären, klärt man Verpackungsfragen, deckt sich ein mit zweit-, dritt- und viertrangigen Problemen, die den Vorteil haben, dass sie sich lösen und systematisch abarbeiten lassen und alle miteinander so beschäftigen, dass man die eigentliche Arbeit unerledigt liegen lassen kann.
Darum frage ich jetzt ganz naiv als irrendes Schaf: Was sind denn die Antworten der Kirche? Was, zum Beispiel, ist mit der Auferstehung? Die Antworten, die das Schaf von den Hirten und Hirtenausbildern hört, reicht vom supranaturalistischen „Er ist wahrhaftig wieder so lebendig aus dem Grab gestiegen, dass man das Ereignis hätte filmen können, wenn’s damals schon Fernsehen gegeben hätte“ bis zu der Aussage des Theologen Lüdemann: „Jesus ist in seinem Grab verwest wie jede andere Leiche“, und das hätte man auch filmen können.
Was passiert mit mir nach dem Tode? Einige sind sich gewiss, dass ich auferweckt werde. Viele reden schwer verständlich drumherum. Einige geben noch schwerer verklausuliert zu, dass sie’s auch nicht wissen, aber auf eine angenehme Überraschung hoffen, manche schweigen betreten.
Am Anfang war das Wort, und dieses Wort beanspruchte absolute Geltung. Wenn aber der eine Christ aus diesem Wort herausliest, dass er den Wehrdienst verweigern muss, während der andere herausliest, dass er seiner Wehrpflicht genügen muss, was ist dieses Wort dann noch wert? Hilft einem einfachen Kirchenschaf wirklich die Antwort, es müsse eben jeder seine im Glauben gründende Gewissensentscheidung treffen? Wenn das eine Gewissen entscheidet, Afghanistan und der Irak müssen bombardiert werden, und das andere Gewissen zum Schluss kommt, Afghanistan und der Irak dürfen auf keinen Fall bombardiert werden, wozu ist dann das christliche Gewissen gut? Im frommen Amerika legt das christliche Gewissen Millionen von Wählern nahe, für die Todesstrafe zu sein, für die Bestrafung von Abtreibung, die Misshandlung von Gefangenen, das Recht auf Waffenbesitz und die Gleichsetzung der nationalen Interessen mit dem Welt-Interesse. Andere Christen in Amerika und im Rest der Welt kommen zu genau gegenteiligen Schlüssen.
Es stimmt schon, die Kirche weiß auf jede Frage alles und auch das Gegenteil zu antworten, und zieht mit uns Orientierungslosen solidarisch, aber genauso orientierungslos durch die Welt und die Geschichte. Am Anfang war das Wort, am Ende bleibt davon nur noch ein Haufen aus Relativierungen. Und die werden jetzt hübsch verpackt als „christliche Antwort“ auf den Markt geworfen. Man muss wohl noch dümmer sein als ein Schaf, um danach zu greifen.
Wundert sich da noch jemand in der Kirche, wenn ich meine Kirchensteuer lieber in einen Weinkeller investiere?
Ihr Christian Nürnberger
Warum mit McKinsey die Lösung näherrückt
Lieber Christian Nürnberger,
Sie überlegen, Ihre Kirchensteuer vielleicht doch lieber in einen Weinkeller zu investieren. Hm, das ist wirklich eine verlockende Alternative. Aber vielleicht geht ja beides: Sie und ich, wir zahlen weiterhin unsere Kirchensteuer und trinken darauf gemeinsam einen Schluck. Aber ein guter sollte es schon sein, der „des Menschen Herz erfreut“ (Psalm 104,15) und nicht „danach sticht wie eine Otter“ (Sprüche 23,32).
Warum ich bei allem Ärger in der Kirche bleibe? Weil jenseits ihrer problematischen Präsentation in der Öffentlichkeit, jenseits der auch von mir beklagten Orientierungslosigkeit und anderer Schwächen, im Kleinen doch viel Gutes geschieht. Es ist nicht spektakulär, wenn die Krankenhauspfarrerin auf der Intensivstation mit dem Patienten betet inmitten piepsender, medizintechnischer Apparate. Es steht nicht in der Zeitung, wenn der Notfallseelsorger dem Häufchen Elend am Straßenrand, das den tödlichen Unfall verschuldet hat, einen wärmenden Mantel um die Seele legt. Es fällt nicht groß auf, wenn der Religionslehrer beim Rollenspiel den Schwächsten in der Klasse zum König macht. Wen interessiert es, dass der Pfarrer mit der schwer behinderten Spastikerin Hausabendmahl feiert? Wem sonst als der auch nach Dienstschluss erreichbaren Pfarrerin kann die kirchenferne Frau ins Ohr heulen: Mein Mann will mich verlassen? Wer findet bei der Beerdigung eines Kindes doch noch Worte, weil er Gott das grenzenlose Leid klagen kann? Und dabei habe ich noch gar nicht die vielen Ehrenamtlichen erwähnt, die sich, ohne viel Aufhebens zu machen, als evangelische Christen engagieren.
Deswegen, lieber Herr Nürnberger, zahlen Sie und ich unsere Kirchensteuer weiter. Nicht wegen ineffizienter Synoden, nicht wegen der esoterischen Angebote evangelischer Erwachsenenbildung, nicht wegen kontraproduktiver Öffentlichkeitskampagnen à la EKD.
Und trotzdem, als Protestant möchte man doch auch dort zu seiner Kirche stehen können, wo sie sich öffentlich präsentiert. Dazu müsste sie etwas zu sagen haben, was sonst niemand sagt. Vielleicht so einen einfachen Satz, mit dem Johannes der Täufer, Jesus und Martin Luther ihr öffentliches Wirken begannen: Tut Buße! Kehrt um auf euren verkehrten Wegen! Doch wer so redet, muss sich an seinen Worten messen lassen. Sind wir Kirchenleute deshalb in diesen Dingen so kleinlaut?
Das Evangelische Münchenprogramm war auch ein Versuch, dass Kirche sich wieder auf ihren Auftrag besinnt. „Wie heißt denn eure Botschaft?“, wollten die Berater und Beraterinnen von uns wissen? Wir hatten zwei Tage Zeit, um darüber nachzudenken. Heraus kamen wieder einmal kluge Essays über das Evangelium im Allgemeinen und die Kirche im Besonderen. Formulierungen, tausendmal formuliert. Glatt gehobelt in zahllosen Diskussionen, um damit dem Götzen der Harmonie und Gefälligkeit zu huldigen. Die Mackies, wie sie von uns genannt wurden, wischten das vom Tisch: „Meint ihr, die Leute haben so viel Geduld mit euch, um sich theologische Vorträge anzuhören? Sie wollen in wenigen Sätzen wissen, wozu Kirche gut ist. Wie also lautet euer mission statement?“ So entstand die Formulierung des Auftrags von Kirche: „Die Kommunikation des Evangeliums von Gottes Liebe und Gerechtigkeit für die Menschen von heute.“ Doch selbst dieses harmlose Sätzlein provozierte heftigen Widerspruch. Uns wurde vorgehalten, wir erweckten den Eindruck, als seien wir im Besitz des Evangeliums und würden es paternalistisch an die Menschen verteilen. Wenn es doch wenigstens so wäre! Wenn wir doch das Evangelium von Gericht und Gnade, von Sünde und Vergebung, von Tod und Auferstehung so verinnerlicht hätten, dass wir es austeilen könnten gleich dem „Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt“ (Matthäus 13,52)!
Jedenfalls war es die Absicht unseres kleinen Teams, das die Ergebnisse des Münchenprogramms mit den Gemeinden umsetzen sollte, dass bei jeder Aktivität von Kirche wieder nach dem Auftrag gefragt wird. Also, was hat denn der Gemeindeausflug in den Erlebnispark mit dem Auftrag der Kirche zu tun? Oder die Schachgruppe im Gemeindehaus? Oder die offene Jugendarbeit im Kirchenkeller, der Diavortrag im Seniorenclub, das Thema „Heilkräfte der Steine“ im Frauenkreis, die Tagesordnung des Kirchenvorstands? Es ging uns nicht darum, diese Gemeindeaktivitäten zu werten. Wir wollten nur hören, wie denn die jeweils Verantwortlichen ihr Angebot mit dem Auftrag der Kirche zusammenbringen. Mögliche Schlussfolgerungen sollte die Gemeindeleitung selbst ziehen.
Einige Gemeinden waren durchaus dazu bereit. Mit ihnen haben wir zum Teil echte Fortschritte erzielt. Doch die Verantwortungsträger auf den verschiedenen kirchlichen Führungsebenen waren, wie es schien, an so einem Kleinkram nicht interessiert. Wenn sie dann wenigstens eine Alternative genannt hätten. Wenn Sie selbst ein Konzept vorgelegt hätten, das nun von den Gemeinden hätte umgesetzt und dessen Erfolg hätte gemessen werden können.
Ich denke dabei an eine landeskirchenweite Initiative, um mehr Mitglieder zu gewinnen. Denn das ist doch nach „Matthäi am letzten“ (Matthäus 28,18ff) unser Auftrag. Allerdings helfen da keine großen Kampagnen in der Öffentlichkeit, die sich wieder einmal an potenzielle Zielpersonen in einer anonymen Menge richten. Wir haben das in München und Nürnberg versucht. Der Erfolg war mäßig. Trotzdem ist es möglich, die Zahl der Eintritte deutlich zu erhöhen. Ein Beispiel:
Am evangelischen Religionsunterricht nehmen verhältnismäßig viele ungetaufte Kinder teil. Es wäre lohnend, sie in persönlichen Gesprächen zur Taufe einzuladen. Wo dies geschieht, ist das Interesse beträchtlich. Doch es ist wieder einmal Sache des einzelnen Pfarrers, der einzelnen Pfarrerin, ob er, ob sie so etwas macht oder nicht. Hinzu kommt das Argument, dass die evangelischen Religionslehrkräfte dazu nicht bereit wären, da ihre Identifikation mit Kirche zu gering sei. Dass es so ist, spricht für sich und gegen eine Kirche, die zu wenig fordert. Vielleicht würden Einzelne in den so genannten „kirchenleitenden Organen“ insgeheim dieser Initiative zustimmen. Doch sie trauen sich offenbar nicht, das laut zu tun. Warum?
Nebenbei bemerkt, es gibt tatsächlich einzelne Gemeinden, in Hessen zum Beispiel, die eine solche Initiative zur Taufeinladung älterer Kinder erfolgreich durchgeführt haben. Es gibt auch Gemeinden, in denen die Zahlen der Gottesdienstbesucher regelrecht explodieren. Die Erfolgskriterien sind untersucht und liegen vor. Wo einzelne Pfarrerinnen und Pfarrer aus eigenem Antrieb nach solchen Modellen in ihren Gemeinden arbeiten, machen sie ähnlich gute Erfahrungen. Doch es bleibt in unserer Kirche eben der Eigeninitiative Einzelner überlassen. Die Dekane, mit denen ich zu tun hatte, hatten jedenfalls keine Zeit, sich solche erfolgreichen Projekte wenigstens einmal anzuhören, geschweige denn anzusehen. Man hätte sonst auf die Frage antworten müssen, warum man so etwas nicht auch im eigenen Zuständigkeitsbereich tut. Stattdessen das alte Genörgel: „Dir geht’s ja nur um Quantität und nicht um Qualität. In der Wirtschaft mag es ja um Zahlen gehen, aber doch nicht in der Kirche!“ Vielleicht hätte Jesus lieber doch zehn zu einem Fünf-Gänge-Menü einladen sollen als zehntausend mit Brot und Fisch zu speisen.
Wenn Sie heute einen bayerischen Regionalbischof oder Dekan fragen, welches Konzept er für die Gemeinden hat, für die er zuständig ist, oder welche Ziele er verfolgt – ob Sie da eine Antwort mit Substanz kriegen? Wir Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer müssen formal eine gewisse pastorale Grundversorgung gewährleisten. Doch schon die Frage, wie wir das machen, ist sekundär. Falls je nach einem Gemeindeaufbaukonzept gefragt werden sollte, genügt es, mit ein paar gängigen Statements, vor allem aber mit Absichtserklärungen zu antworten. Dass Kirchenleitung daran Interesse hätte, die faktische Umsetzung auch zu überprüfen, braucht von uns niemand zu befürchten. Doch wer nichts will, den will man nicht. Und wer keine Ziele hat, kann auch nicht führen. „Das wollen wir auch nicht“, so habe ich es von verschiedenen Dekanen im Ohr. „Wir wollen die Partner unserer Pfarrerinnen und Pfarrer sein. Wir wollen geschwisterlich miteinander umgehen.“ – „Und wir wollen nicht geführt werden“, antwortet ein vielstimmiger Chor der Pfarrerschaft. – „Na dann“, so möchte man antworten, „werdet ihr eben vom Rotstift der Sparkommissare in das Land der Ärmlichkeit geführt“.
Doch wo ist der archimedische Punkt, um diese traurige Kirchenwelt aus den Angeln zu heben? Eine neue Erweckungsbewegung vielleicht? Du kannst dafür beten. Erzwingen kannst du sie nicht. Oder sollen wir in der Kirche der Reformation unter dem Stichwort „Priestertum aller Getauften“ auf die Machtübernahme durch die Laien hoffen? Zur Zeit sieht es nicht danach aus. Meine Gedanken kreisen zunehmend um eine schreckliche Häresie: Bezahlt die Theologen nach Leistung! Und zwar alle! Angefangen bei den Oberkirchenräten, Regionalbischöfen und Professoren (Frauen sind mit gemeint) bis zu uns Pfarrerinnen und Pfarrern. Warum nicht den Landesbischof?, mögen Sie fragen. Nun, der wird in Bayern vom Staat bezahlt.
„Aber, aber man kann doch die Arbeit eines Pfarrers, einer Pfarrerin, zum Beispiel die Seelsorge, nicht nach Leistung bemessen.“ Kann man doch. Durch vergleichende Verfahren lässt sich fast alles messen. Doch ich will ja mir selber gegenüber nicht gleich so unbarmherzig sein und mein halbes A14 Gehalt ganz aufs Spiel setzen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man die bisherige Alimentierung zu zwei Dritteln beibehalten und nur das letzte Drittel des Gehalts nach Leistung bezahlen würde. Allerdings müsste Kirchenleitung dann vereinbarte Ziele und Kriterien haben. So aber bleibt es wohl bei der Maxime, die Jochen Klepper in seinem Morgenlied formuliert hat: „Will vollen Lohn mir zahlen, fragt nicht, ob ich versag“ (EG 452, Vers 5). Oder habe ich da was falsch verstanden?
„Aber, aber das Leistungsprinzip passt nicht zum Evangelium. Wir vertreten die Rechtfertigung ohne Werke.“ Stimmt. Aber dürfen wir dann auch die Kirchensteuer annehmen, die die „Werke“ der Gemeindeglieder abwerfen? Wie schön, dass die Hirten von ihren Schafen die Wolle nehmen, selbst aber keine Federn lassen möchten.
Weil ich gerade so in Fahrt bin ... Nein. Nicht weiter. Wir beide sollten uns tüchtig streiten – so will es jedenfalls der Verlag – und nicht einander die Stichwörter der Kirchenkritik wie Bälle zuwerfen.
Lieber Herr Nürnberger, wenn Theologen und Theologinnen Kirche reformieren wollen, dann schreiben sie eine Doktorarbeit und stellen sie in den Bücherschrank. Die Bücherschränke quellen über, die Kirche bleibt die alte. So sind viele brillante Ideen verstaubt. In Abwandlung der elften Feuerbachthese von Karl Marx möchte ich sagen: Die Theologen haben die Kirche nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Meine Leidenschaft gilt der Praxis. Orthopraxie vor Orthodoxie, das ist schon die Priorität in Jesu Bergpredigt, damit das Haus Kirche nicht „einen großen Fall“ tut (Matthäus 7,24–27). Deshalb meide ich inzwischen so gut es geht das süße Gift kirchlicher Gremien und Diskussionsveranstaltungen. Ich habe damit dem lieben Gott schon zu viel Zeit und den Kirchensteuerzahlern zu viel Geld gestohlen.
Gerade da ich diese Zeilen schreibe, kommt elektronische Werbepost eines theologischen Verlags. Den Pfarrerinnen und Pfarrern wird die Anthologie „Die Kirche der Zukunft, TheologInnen träumen von ihrer Kirche“ als – Zitat – „Schnäppchen“ angeboten, im Dutzend billiger. Bei einer Diskussion mit Synodalen stellte kürzlich ein Theologieprofessor ebenfalls seinen „Traum von Kirche“ vor. O ja, das passt zu unserer Zunft, dass wir träumen und meinen, Gott wird uns schon die Träume erfüllen, wie er es weiland bei Josef getan hat. Gibt es der Herr den Seinen nicht im Schlaf? Pardon, aber ich kriege grüne und blaue Punkte im Gesicht, wenn ich so etwas lese. Der Platzregen fällt, die Wasser kommen, die Winde wehen (siehe oben Matthäus 7,25), die Wände wackeln schon – und noch immer träumen sie. Was muss denn noch alles passieren, bis die Damen und Herren Theologen endlich aufwachen und handeln?!
Und hier liegt auch der Grund, weshalb ich nach anfänglichem Zögern bereitwillig beim Beratungsprojekt von McKinsey mitgemacht habe. Endlich wurde mal nicht wieder nur geträumt oder unverbindlich geredet. Vom ersten Tag an wurde konsequent an der praktischen Umsetzung der Beratungsergebnisse gearbeitet. Die Menschen in den Gemeinden sollten spüren, dass sich etwas zu ihren Gunsten verändert. Das ist uns zum Teil auch gelungen.
Gott sei Dank arbeiten manche Kolleginnen und Kollegen schon längst nach dieser Devise, sonst sähe es erst recht zappenduster aus. Sie tun das oft intuitiv, ohne McKinsey, ohne missglückte EKD-Initiativen und ohne den leitenden Bischof der VELKD zu kennen. Sie haben es dort leichter und arbeiten erfolgreicher, wo sie den Mut zu klaren Prioritäten haben und dazu, unergiebige Arbeitsfelder aufzugeben. Die Vielzahl der Angebote, die Pfarrerinnen und Pfarrer heute in ihren Gemeindebriefen meinen präsentieren zu müssen, sind kein Zeichen des Reichtums, sondern der Krise. Statt wie der Holzwurm viele kleine Löcher zu bohren, wäre es besser, an wenigen Stellen in die Tiefe zu gehen. Meine Frau und ich tun das, wie im ersten Brief beschrieben, bei der Arbeit mit Kindern. Sie lässt uns vergessen, dass es so etwas wie eine Krise der Kirche gibt.
Zu guter Letzt: Schade, dass sich Kirche in unserer Zeit so schwer tut, wo sie es doch so leicht hat. Menschen hungern geradezu nach heilsamen Erfahrungen, nach Worten und Symbolen, die ihnen helfen, die Welt und das eigene Leben zu deuten. Sie verlangen von Kirche keine perfekte Show. Sie sind dankbar für jedes kirchliche Angebot, bei dem sie spüren, dass man sich ihretwegen Mühe gegeben hat. Sie sind empfänglich für Zuwendung und Gebete. Sie sind auch bereit, sich etwas sagen zu lassen. Sie fühlen sich mit Kirche umso mehr verbunden, je öfter sie die Erfahrung machen, dass sie als Einzelne wahrgenommen werden. Dafür kann man beten. Dafür kann man auch etwas tun. Ora et labora! Bete für deine Arbeit und arbeite für dein Gebet! Das ist das uralte Rezept, nach dem Kirche auch heute funktioniert. Warum nur tun sich viele Geistliche so schwer damit? Gibt es doch keinen schöneren Beruf als den des Pfarrers in einer lebendigen Gemeinde.
Herzliche Grüße
Ihr Hans Löhr
P.S. Besuchen Sie uns doch einmal in Sommersdorf. Der Rotwein aus dem Pfarrhauskeller ist auch ohne Kirchensteuerinvestition trinkbar.
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