„Lumpenpuppe“ oder
„Weil du mich kennst, darum liebst du mich.“
Liebe Freunde,
wer von euch ist alt genug, dass
er sich noch an diesen Song erinnert? [Einspielung der ersten Takte von „Rag
Doll“] Ja, ich weiß, mit solchen Songs kann man heute keinen Hund mehr hinterm
Ofen vorlocken. Aber in den sechziger Jahren war das ein großer Hit: „Rag Doll“
von Frankie Valli und den Four Seasons.
Die Story, die dieser Song
erzählt, geht so:
Als sie noch ein Kind war, trug sie verschlissene Kleider. Man
lachte über sie, als sie in die Stadt kam. Man nannte sie Rag Doll,
Lumpenpuppe.
Zu ihrem hübschen Gesicht hätte sie Kleider aus feinen Spitzen
tragen sollen.
Wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte ich ihre traurigen
Lumpen am liebsten mit fröhlichen Kleidern vertauscht.
Aber meine Leute ließen das nicht zu. Sie sagten, sie sei kein
guter Mensch.
Sie ist doch eine Rag Doll, nur so eine Lumpenpuppe.
Doch ich liebe sie so, ich kann sie nicht vergessen.
Ich liebe dich gerade so wie du bist, Rag Doll, Lumpenpuppe.
(Song „Rag Doll“ von Frankie
Valli und den Four Seasons)
Und du, der du jetzt hier sitzt,
bist – mit Verlaub – auch eine Lumpenpuppe. Auf die Idee, euch so zu nennen,
hat mich ein Kollege gebracht, der vor 14 Tagen auf dem Promiseland Kongress in
Siegen gepredigt hat. Ich war da mit neun
Ehrenamtlichen, die in unserer Gemeinde den Kindern dienen und tolle
Angebote für sie machen. Ein paar sind jetzt unten beim Kinderlichtblick. Ich
bin auf diese Männer und Frauen mächtig stolz und bin dankbar, dass Gott sie
uns geschickt hat.
Also, die Idee, euch Lumpenpuppen
zu nennen, habe ich von da mitgebracht.
Jener Kollege sprach von einem
Lumpen-Teddy, der einmal seiner Schwester gehört und den er auf dem Dachboden
gefunden hatte. Ich möchte euch von einer echten Rag Doll, einer wirklichen
Lumpenpuppe erzählen. Sie hatte einst vor über 30 Jahren unserer kleinen
Nachbarin Tabea gehört und wurde von ihr „Anna“ genannt. Jene Lumpenpuppe war
ganz aus Stoff und wurde von Tabea überall mit hingenommen: Zu den Mahlzeiten,
in den Sandkasten, zum Einkaufen mit Mama, ja sogar aufs Klo und natürlich jede
Nacht mit ins Kinderbett. Wo Tabea war, war auch ihre Anna und umgekehrt. Ihr
könnt euch vorstellen, wie diese Stoffpuppe schon nach kurzer Zeit ausgesehen
hat. Ihre Mama Renate hat sie in die Waschmaschine gesteckt. Das gab ein Geschrei!
Anna hat nämlich hinterher nicht mehr so gerochen wie zuvor und war auch nicht
mehr so fleckig und speckig. Und das hat Tabea sofort bemerkt. Denn in ihren
Augen war die Lumpenpuppe Anna wunderschön , in den Augen der Liebe eines
kleinen Mädchens von drei Jahren. Eines Tages, nachdem alles Flicken und Waschen
nichts mehr geholfen hat, wurde die Puppe entsorgt und eine neue Ersatzanna
gekauft, die genauso aussah wie die alte. Aber Tabea hat sie nicht genommen.
Nachdem sie lange genug getobt, gebrüllt und geheult hatte, wurde die neue Anna
in die Ecke geworfen und die alte wurde mit der Zeit vergessen.
Warum? Die neue war doch viel
schöner. Aber die neue war eben nicht die alte, mit der Tabea so viel erlebt
hatte. Die kleine Tabea hatte ihre Puppe nicht deshalb so geliebt, obwohl sie
so zerlumpt war, sondern weil sie so war wie sie war.
Erinnert ihr euch noch an die
Zeile von Frankie Valli und den Four Seasons: »Ich liebe dich gerade so wie du
bist, Rag Doll, Lumpenpuppe.«
Vor der Predigt haben wir ein
anderes Lied gesungen. Eines, das mir ganz gut gefällt. Nur die letzte Zeile
vom Kehrvers mag ich gar nicht. Denn da singt man in der ursprünglichen
Version:
»Gott, ich danke dir, dass du
mich kennst und trotzdem liebst.« Ich hab dann den Text für unsere Lichtblickband
ein klein wenig geändert. Und deshalb haben wir vorhin miteinander gesungen: »Und
ich danke dir, dass du mich kennst und darum
liebst.«
Vielleicht denkt sich jetzt der
eine oder die andere: „Naja, so groß ist der Unterschied doch nicht.“ Da kann
ich nur sagen: Denke an Tabea und ihre Puppe und an Frankie Valli und seine Rag
Doll. Beide lieben ihre Lumpenpuppe nicht obwohl sie so zerlumpt war, sondern
gerade deswegen. Und bei Gott ist es genauso. Da bin ich sicher. Er liebt dich
und mich nicht obwohl wir so sind wie
wir sind. Er liebt uns nicht trotzdem,
dass er uns kennt, sondern weil er
uns kennt.
Keiner von uns sitzt heute in
zerlumpten Kleidern hier. Wir haben uns heute Morgen überlegt, was wir anziehen
und wie wir uns in der Öffentlichkeit zeigen wollen. Wir haben und adrett gekleidet.
Manche haben sich auch geschminkt. Wow! Aber wie steht es um unsere Seele? Wie
sieht es hier drinnen aus?
Vielleicht sind wir äußerlich
Models auf dem Laufsteg des Lebens, hübsch angezogen, und innen Lumpenpuppen,
Menschen, deren Herz gebrochen ist, die mit Enttäuschungen leben müssen oder
mit Anfeindungen. Die vereinsamt sind, von Sorgen geplagt und von
Selbstzweifeln gequält. Die vielleicht eine Schuld belastet und ein schlechtes
Gewissen drückt. Die in sich eine Wut oder einen Hass auf andere tragen. Vielleicht
sind wir auch missgünstig, geizig und sogar ein bisschen gemein. Da ist dann
wenig schön und heil, aber viel zerrissen und kaputt.
Was meint ihr, liebt uns Gott, obwohl wir so sind oder weil wir so
sind?
Okay, bestimmt sind jetzt auch
solche hier, denen es zurzeit gut geht. Auch wenn du mit dir und Gott und deinen
Mitmenschen im Reinen bist, dann höre bitte trotzdem zu, was ich jetzt denen
sage, die sich vielleicht zur Zeit so ähnlich wie seelische Lumpenpuppen
fühlen.
Gott liebt dich, weil er dich
kennt. Er liebt dich nicht, weil du liebenswert wärst. Wenn ich ehrlich zu mir
selber bin, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich in Gottes Augen liebenswert
bin. Aber mein ganzer Glaube hängt daran, dass Gott mich liebt, weil ich seiner
Liebe bedarf.
Unter uns Menschen ist das
meistens anders. Männer lieben Frauen, weil sie schön und attraktiv sind und weil
sie auch liebevoll, mütterlich, verständnisvoll, zärtlich und anschmiegsam
sind. Es soll auch rechte Kratzbürsten unter ihnen geben. Natürlich trifft das
auf die anwesenden nicht zu, schließlich ist auch meine Frau hier und … Ich
schweife ab. Was ich sagen will ist, wir lieben andere meistens wegen ihrer
liebenswerten Seiten. Gott aber liebt uns, weil wir seine Liebe brauchen.
Jesus erzählt davon wie ein Hirte
ein Schaf sucht, das davon gelaufen und verloren gegangen ist. Warum sucht der
Hirte das Schaf und lässt die 99 anderen zurück? Sagt er vielleicht zu sich
selber: „Nun gut, dann suche ich halt das blöde Schaf, weil ich ein so
gutmütiger Hirte bin«? Nein, er macht sich auf die Suche, weil er weiß, dass
das Schaf in Not ist, dass es ihn braucht, weil es ohne seinen Hirten erst
recht verloren ist und nicht mehr zurückfindet.
Jesus erzählt auch vom verlorenen
Sohn, der sich völlig zerlumpt und abgerissen wieder nachhause schleicht.
Nichts an ihm ist mehr liebenswert. Aber sein Vater spürt sofort, dass der Sohn
seine väterliche Liebe braucht und darum geht er, nein rennt er ihm entgegen
und drückt ihn an sein Herz.
Liebe
Freunde, wer einen anderen „trotzdem“ liebt, trotz seines Versagens, der sagt:
„Eigentlich hat er es ja nicht verdient, dass ich ihn liebe. Dazu hätte er sich
anders verhalten müssen. Aber ich will ja nicht so sein. Ich will nachsichtig
mit ihm sein und gnädig. Ich will ihm nochmal eine Chance geben. Hört ihr den
Unterton? Wer so denkt, der spricht immer nur von sich, sagt „Ich will, ich
will, ich, ich, ich“.
Wer einen
anderen liebt, weil er weiß, dass nur die Liebe ihm helfen kann, der denkt
nicht zunächst an sich. Er sieht den anderen, wie er ist, er sieht seine Not.
Er kommt ihm mit seiner Liebe zuvor und wartet nicht darauf, dass sich der
andere erst durch Reue und Buße dieser Liebe würdig erweist.
Der gute
Hirte wartet nicht mit verschränkten Armen, bis das verlorene, verirrte Schaf
endlich wieder zurückkommt, um ihm dann gnädig das Gatter zu öffnen, sondern er
geht ihm durch Hitze und Dornen, über Stock und Stein nach und sucht, bis er es
findet. Und das, was ihn suchen lässt, ist seine große Sorge um das Schaf, weil
er weiß, dass es ihn braucht, ihn, der keine Mühe scheut, um es zu finden. Und
wenn er das Schaf gefunden hat, hält er ihm keine Moralpredigt, sondern legt es
auf die Schulter und trägt es heim.
Und der
Vater wartet nicht mit verschränkten Armen darauf, bis der Sohn vor der Haustür
steht, um sie ihm dann mit einem vielsagenden Blick zu öffnen, um ihm zu
demonstrieren, wie gnädig er doch ist und wie sehr sich der Sohn schämen muss,
dass er einen so gnädigen Vater verlassen hat. Nein, stattdessen läuft er,
rennt er seinem Kind entgegen, weil er es nicht erwarten kann, den Sohn in die
Arme zu schließen, weil er spürt, wie sehr sein Kind seine Liebe braucht, die tröstet
und heilt. Er kennt ja seinen Sohn. Er weiß wie ihm zu Mute ist. Er weiß, was
ihm fehlt: die liebevolle Gemeinschaft mit dem Vater. Und genau das gibt er
ihm.
»Und ich
danke dir, dass du mich kennst und trotzdem liebst«. Dieses Trotzdem beschämt.
Aber das Darum erlöst: »Und ich danke dir, dass du mich kennst und darum
liebst.« Das Trotzdem wartet auf dem hohen Ross der Moral. Das Darum kommt
entgegen.
Und unser
Gott wartet nicht mit verschränkten Armen, dass wir reuige Sünder endlich zu
Kreuze kriechen. Er ist unser himmlischer Vater, der uns Lumpenpuppen in Jesus
entgegengeht und mit seiner Liebe zuvorkommt.
Nochmal:
Gott liebt dich nicht deshalb, weil du so liebenswürdig wärst, sondern weil du
liebesbedürftig bist. Er kennt dein Innerstes, deine Seele. Er weiß, wie einsam
du manchmal bist und wie enttäuscht. Er kennt die Sünde, die dich zerstört. Und
er weiß, was dich wieder heilt: die Liebe, die er dir in Jesus schenkt. Wenn
schon Frankie Valli seine Rag Doll und Tabea ihre Lumpenpuppe so sehr liebt,
dann liebt Gott dich noch mehr.
Vor 22
Jahren war ich Pfarrer in München. Einmal ging meine zweite Tochter sie nach der Schule mit einer Freundin in
eine große Schreibwarenhandlung, wo es Aufkleber gab, die damals bei den
Kindern groß in Mode waren. Die beiden achtjährigen Mädchen klauten sich ein paar Aufkleber.
Das hatte ein Ladendetektiv gesehen. Er rief die Polizei. Die Mädchen wurden festgehalten, vernommen und dann nachhause geschickt. Die Eltern wurden von der Polizei
verständigt. Ich war ganz schön betroffen, als mir ein Polizist am Telefon den
Sachverhalt erklärte. Meine Tochter und so was?! Bald darauf hörte ich, wie sie
die Treppe zu unserer Wohnung heraufkam. Sie war ein heulendes Elend. Ich lief
ihr entgegen, nahm ihr die Büchertasche ab und wir gingen gemeinsam in die
Wohnung. Dort nahm ich sie in die Arme und sagte nur: "Ich weiß schon Bescheid. Aber jetzt ist alles gut."
Ich wusste
unwillkürlich, dass ich jetzt mit einer Strafpredigt alles verderben würde. Warum ich das wusste?
Vielleicht aus der Geschichte vom Verlorenen Sohn. Meine Tochter brauchte meine
Liebe und sonst nichts. Später habe ich mit ihr nochmal über die Zehn Gebote gesprochen. Das das war vielleicht keine so gute Idee, denn sie wusste auch so, was sie falsch gemacht hatte. Nein, ihre Tat war nicht liebenswürdig. Aber dieser
kleine Mensch war liebesbedürftig.
Wenn ich
damals zu meiner Tochter schon so sein konnte, um wie viel mehr ist Gott so zu
mir. Ich weiß, dass ich leider nicht immer so verständnisvoll auf die Fehler
anderer reagiere. Ich bin auch impulsiv, platze mit meinem Ärger schnell heraus
und verletze andere mit unbedachten Worten. Gott nicht. Er hat Geduld mit mir
und mit dir auch.
Liebe
Freunde, wir alle sind vor ihm wohl solche Rag Dolls, solche Lumpenpuppen und
leben inmitten anderer Lumpenpuppen. Wir können Gott gemeinsam loben und
preisen, dass er uns Jesus, den guten Hirten geschickt hat, der nicht aufhört
uns zu suchen, bis er uns gefunden und heimgebracht hat. Wir können ihm danken,
dass er uns kennt und darum liebt.
Und wir können zu anderen auch so sein.
Amen
Predigt von Hans Löhr im Lichtblickgottesdienst am 20. Oktober 2013