Predigt
von Hans Löhr am ersten Sonntag nach Weihnachten
in Sankt Nikolai, Neuendettelsau
Predigttext: Jesaja 49, 13-16:
Himmel
und Erde, jubelt, ihr Berge, freut euch laut! Denn der HERR hat sein Volk
getröstet. Voll Erbarmen nimmt er sich der leidenden Menschen an, die zu ihm
gehören. Niemals vergisst der Herr sein Volk! Jerusalem aber klagt: »Ach, der
HERR hat mich im Stich gelassen, er hat mich längst vergessen!« Doch Gott
antwortet: »Bringt eine Mutter es fertig, ihr kleines Kind zu vergessen? Bringt
sie es übers Herz, es seinem Schicksal zu überlassen? Hat sie nicht Mitleid mit
dem Kind, das sie in ihrem Leib getragen hat? Und selbst wenn sie es vergessen
könnte, ich vergesse dich nicht! Unauslöschlich habe ich deinen Namen auf meine
Handflächen geschrieben, deine Mauern habe ich ständig vor Augen!
Liebe Freunde,
großes Gewühl in einem Münchner
U-Bahnhof. Plötzlich war die damals sechsjährige Tochter nicht mehr da. Meine
Frau und ich sind zutiefst erschrocken. In verschiedenen Richtungen suchten wir
nach ihr. Gott sei Dank hatte ich sie gleich gefunden. Sie weinte und sagte mit
tränenerstickter und zugleich vorwurfsvoller Stimme: „Ihr habt mich vergessen!“
Ich ging in die Knie, nahm ihre Hände und sagte auf Augenhöhe zu ihr: „Aber
Julia, das würden wir nie tun. Du bist doch unsere liebe Tochter. Wie könnten
wir dich da vergessen? Schau, wir haben dich sofort gesucht und gleich
gefunden. Jetzt gib mir deine Hand, dann kann das nicht mehr passieren.“
Das ist doch
der Beweis, dass man sein eigenes kleines Kind nicht vergessen und schon gar
nicht seinem Schicksal überlassen kann. Oder?
Naja, in dem
Bibelwort aus dem Buch des Propheten Jesaja wird diese Möglichkeit zumindest
angedeutet. Schließlich sagt da Gott durch den Mund seines Propheten: „Und
selbst wenn die Mutter ihr Kind vergessen würde – ich vergesse dich niemals!“
Ja, wir
Menschen sind zu vielem fähig, was man normalerweise nicht für möglich hält.
Gott nicht. Man sagt zwar, dass der Allmächtige alles könne, aber dass er dich
oder mich vergisst oder uns gar unserem Schicksal überlässt, das kann er nicht.
Das hat er für sich selbst ausgeschlossen. Und darauf, liebe Freunde,
vertraue ich und sage: „Was auch geschieht, Gott verlässt mich nicht. Wie
schwer mein Schicksal auch immer sein wird, Gott überlässt mich nicht dieser
Macht. Er bewahrt mich nicht vor Leid. Aber er lässt mich darin nicht allein.
Er trägt es mit mir und wendet es wieder zu der Zeit, da er will. Das gilt
genauso für dich.
„Die kommt nie mehr wieder“
„Und selbst
wenn die Mutter ihr Kind vergessen würde“ - mir geht dieser Satz nach. Denn das
wäre für ein Kind die absolute Katastrophe. Wenn ich nur daran denke, kriege
ich einen Kloß im Hals. Und doch geschieht das täglich überall auf der Welt.
Am 10. Dezember
1989 berichtet Spiegel-TV, dass es bereits einen Monat nach dem Fall der
Berliner Mauer 50 verlassene Kinder in Ostberlin gibt. Ihre Väter und Mütter
haben sie im Stich gelassen und sich zu den leuchtenden Schaufenstern im Westen
aufgemacht, um dort zu bleiben. Damals sagte der drei Jahre alte Steve zu einem
Reporter: "Ich weiß, wo meine Mutti ist, in Westberlin. Jetzt bin ich
al¬lein. Die kommt nie mehr wieder."
Was wohl aus
Steve geworden ist? Dreiunddreißig Jahre muss er jetzt sein. Ob er selber
Kinder hat? Ob er ihnen ein guter Vater sein kann? Oder hat seine Seele so
schweren Schaden genommen, dass er darüber zerbrochen ist?
Vor 2560
Jahren, zurzeit des Propheten, den man den Zweiten Jesaja nennt, haben sich die
Bewohner Jerusalems von Gott verlassen gefühlt. Nach der Zerstörung der Stadt
und des Tempels durch den babylonischen König Nebukadnezar lag Jerusalem
nach wie vor in Trümmern ohne Mauern und Schutz. Noch immer waren ehemalige Bewohner und deren Nachkommen im Exil in Babylon. In dieser Situation
stimmten die Verbliebenen, die damals in der Stadt hausten, die Klage aus dem
heutigen Predigtwort an: »Ach, der HERR hat mich im Stich gelassen, er hat mich
längst vergessen!« Immerhin sprachen sie noch von Gott, wenn auch klagend und
anklagend. Sie jedenfalls hatten Gott bisher noch nicht verlassen. Sie hatten
auf ihn gehofft. Aber es hatte sich nichts getan. Würden sie sich nun von ihm
abwenden?
Ich kann mir
denken, dass es dem einen oder anderen von euch hier schon einmal ähnlich
ergangen ist. Da warst du vielleicht sehr krank und hast auf Gott gehofft. Aber
es ist nichts geschehen. Du bist noch kränker geworden und musstest vielleicht
fürchten, dass du nie mehr gesund werden würdest. Mich würde es nicht wundern,
wenn du dann zu dir gesagt hättest: „Gott hört meine Gebete nicht. Er hat mich
verlassen. Und nun werde ich ihn verlassen.“
Doch soweit ist es
nicht gekommen, sonst wärst du heute nicht hier. Aber bei anderen, die jetzt
nicht mehr hier sind, bei denen ist es vermutlich so weit gekommen. Sie haben
sich von Gott abgewandt, weil in ihrem Leben Dinge geschehen sind, die sie an
ihm zweifeln ließen. Ich kann das ein Stück weit verstehen. Wer möchte denn
nicht, dass geschieht, worum er Gott bittet? Wer möchte nicht, dass alles
gut wird? Doch wer könnte das besser verstehen als der, der selbst sterbend am
Kreuz gerufen hat: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Wisst ihr, ich
habe mal gedacht: „An einem entscheidenden Punkt hatte es Jesus besser als ich.
Er war und fühlte sich auf das Engste mit Gott, mit seinem Vater im Himmel
verbunden. Auf ihn hat er ganz und gar vertraut. Er musste nicht zweifeln, wie
ich das muss. Er musste um seinen Glauben nicht ringen, wie ich das muss. Er
musste vor nichts und niemandem Angst haben wie ich das muss. Er konnte sich
ganz sicher sein, dass Gott bei ihm war und ihm in jeder Situation half. So
habe ich mal gedacht.
Aber dann kam
mir jenes Wort vom Kreuz in die Quere. Und ich las, wie er zitternd vor Angst im Garten Gethsemane betete, dass Gott ihm doch die
bevorstehenden Qualen und den Tod ersparen möchte. Und mir fiel wieder ein, was
er am Kreuz schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Da
wurde mir klar, dass auch Jesus wie du und ich gefühlt hat.
Ganz und gar Mensch
Und warum? Weil
Gott in ihm ganz und gar Mensch werden wollte angefangen bei den stinkenden
Windeln, die Maria im Stall von Bethlehem wechseln musste, bis hin zu seinen
Todesängsten, Zweifeln und dem Gefühl grenzenloser Verlassenheit. So ist
Gott in seinem Sohn Jesus ganz und gar Mensch geworden, um all das
durchzumachen und zu erleiden, was auch seine Menschenkinder durchmachen und
leiden.
So, und nur so
kam er in die tiefsten Abgründe menschlichen Schicksals, in Schmerzen, Angst,
Verzweiflung und Leid. So, und nur so konnte und kann er dich und mich daraus
retten und tut es auch.
In meiner
Kindheit hieß es im Glaubensbekenntnis noch Jesus Christus ist „niedergefahren
zur Hölle“. Die Hölle, liebe Freunde, ist nicht das, was nach dem Tod auf uns
wartet. Da wartet auf jeden unser barmherziger Gott. Das hab ich inzwischen
kapiert. Die Hölle ist das, was wir Menschen uns vor dem Tod zufügen, was wir
auf der Erde erleiden sei es aus eigener Schuld oder sei es, weil uns ein
schlimmes Schicksal begegnet. In diese Hölle ist Jesus hinabgefahren. Aus ihr
holt er uns herauf. Da bleibt keiner verloren, da bleibt keiner verlassen.
Wenn meine
Kinder aus der Schule kamen, waren immer wieder mal mit Kugelschreiber ihre
Hände bemalt. Und wenn ich dann fragte, was das bedeuten solle, dann sagten
sie: „Ich hab mir die Telefonnummer einer Freundin aufgeschrieben, damit ich
sie nicht vergesse“ oder „ich hab mir schnell noch die Mathe-Hausaufgabe auf
dem Handrücken notiert.“
Daran musste
ich denken, als ich das heutige Predigtwort aus dem Jesaja-Buch gelesen habe.
Und darum habe ich auch dieser Predigt die Überschrift gegeben „Der tätowierte
Gott“. Denn in dem Bibelwort sagt er zu den Menschen damals und zu dir heute:
»Unauslöschlich habe ich deinen Namen auf meine Handflächen geschrieben.« Immer
wenn er seine Hände sieht, liest er deinen Namen. Er hat dich vor
Augen, am Tag und in der Nacht, in deinen guten und in deinen schlechten
Zeiten, wenn du auf ihn vertraust und wenn du verzweifelst. Mitten im Leben und
wenn du stirbst. Denn auch der Tod kann deinen Namen in seinen Händen nicht
auslöschen. Gott ist tätowiert mit deinem Namen und mit meinem. Daran, liebe
Freunde, lasst uns denken, so oft wir den Trost brauchen, dass er an uns denkt. Denn daran halte ich fest:
Was auch immer geschieht, Gott
verlässt mich nicht.
Was auch immer geschieht, nichts
kann mich von seiner Liebe trennen.
Wie schön wäre
es, wenn Steve das auch glauben könnte, den seine Mutter vor 30 Jahren
verlassen hat. Aber wer weiß, vielleicht ist das so. Das aber weiß ich bestimmt: Auch
sein Name steht in Gottes Hand.
Amen
Gebet: Herr, das
ist wahr, dass ich dich immer wieder mal vergesse im Lauf des Tages, im Lauf
des Lebens. Aber du vergisst mich nicht. Du hast mich immer vor Augen und
hältst deine schützende und segnende Hand über mir. Und auch das stimmt: Immer
wieder mal lebe ich so, als würdest du mich nicht lieben. Aber du lässt nicht
zu, dass mich irgendwas von deiner Liebe trennt, auch nicht mein Unglaube oder
meine Zweifel. Denn du bist treu. Amen