Predigt von Hans Löhr am Sonntag Estomihi in den Kirchen in Thann und Sommersdorf. Predigttext: Lukas 18, 31-43
Liebe Gemeinde,
als ich das letzte Mal zu euch hier gepredigt habe, ging es um das
Thema: „Es ist wichtiger, wie du glaubst als was du alles glaubst.“ Darum geht
es auch in der biblischen Geschichte vom Blinden von Jericho, die heute unser
Predigttext ist. Doch hört zunächst den ersten Teil, in dem davon die Rede ist,
dass Jesu Jünger nichts begriffen haben.
„Jesus nahm seine zwölf Jünger beiseite und sagte ihnen: »Wir gehen
jetzt nach Jerusalem. Dort wird sich alles erfüllen, was die Propheten über den
Menschensohn geschrieben haben. Man wird ihn denen übergeben, die Gott nicht kennen. Die
werden ihren Spott mit ihm treiben, ihn misshandeln, anspucken und schließlich
auspeitschen und töten. Aber am dritten Tag wird er von den Toten auferstehen.« Die Jünger begriffen
nichts. Was Jesus damit sagen wollte, blieb ihnen verborgen, und sie verstanden
es nicht.“ Lukas 18,31-34.
Die Jünger sind sozusagen taub für das, was Jesus sagt, mehr noch, sie
sind blind für das, wer Jesus ist und worum es ihm geht. Sie wollen und können
nicht wahrhaben, dass er in der Hauptstadt Jerusalem auf Betreiben der
Mächtigen in Staat und Kirche misshandelt und getötet werden wird. Ist er aus
ihrer Sicht nicht Gottes Sohn? Ist er aus Gottes Sicht nicht sein Menschensohn?
Da muss er doch für seine Gegner unangreifbar sein.
Der Weg ans Kreuz ist der Weg der Liebe
Die Jünger erkennen nicht, dass Jesus den
Weg der Liebe geht, genauer: der Feindesliebe. Nur auf diesem Weg kann er seine
Freunde und Feinde, kann er uns und alle Menschen, ja die ganze Schöpfung
erlösen. Denn, wie er selbst sagt, „niemand hat größere Liebe als wer sein
Leben lässt für seine Freunde“ und nach seinem Tod muss man hinzufügen, auch
für seine Feinde. Und die Feindesliebe ist nichts Geringeres als Gottes Liebe
zu den Menschen. Sie ist mit Jesus auf die Welt und somit auch zu uns gekommen.
Sie zeigt sich in allem, was er sagte und tat.
Die meisten Menschen in der
Bibel und auch später in der Kirche bis in unsere Gegenwart haben geglaubt und
glauben noch, dass Gott nur seine Freunde lieben würde, dass Jesus nur sie
erlösen würde. Alle anderen aber seien verdammt und verloren. Dieser Irrtum hat
viel Leid in die Welt gebracht und hat dazu geführt, dass sich Christen bekriegt
haben, weil sie sich gegenseitig den rechten Glauben abgesprochen haben.
Wir heute können und dürfen
glauben, dass kein Geschöpf verloren und verdammt ist, das Gott geschaffen hat.
Auch der Mörder von Hanau, der sich der gerechten, menschlichen Strafe durch
Selbstmord entzogen hat, ist und bleibt ein Kind Gottes. Das ist für uns nur
schwer anzunehmen, weil unser Herz oft zu eng ist für unsere Feinde und Verbrecher.
Ja, er wäre zu Recht von einem menschlichen Gericht abgeurteilt und dann
lebenslang eingesperrt worden.
Gottes weites Herz
Aber Gott richtet und urteilt anders als wir Menschen das tun. Sein Herz
ist weit genug auch für die Feinde. Darum heißt es in der Bibel von ihm, er sei
barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte. Ich weiß, dass vielen das
nicht gefällt. Ich habe selbst meine Probleme damit. Doch er tut nicht, was wir
wollen, sondern was er will. Er regiert nicht nach unseren Vorstellungen,
sondern nach seinen. Das habe ich zu respektieren.
Und das haben auch Jesu Jünger
nicht verstanden. Sie haben allzu menschlich von ihm gedacht. Sie haben
übersehen, dass Jesus mit allen Geschöpfen seines himmlischen Vaters Erbarmen
hat. Sie waren blind für seine voraussetzungslose und grenzenlose Liebe. Und
davon handelt nun der zweite Teil des heutigen Predigttextes:
Ein Blinder wird geheilt
(HL: bindet sich eine Augenbinde um, wirft sich eine Decke über und
nimmt einen Stock)
SG: „Jesus und seine Jünger waren unterwegs nach Jericho. In der Nähe der
Stadt saß ein Blinder an der Straße und bettelte. Er hörte den Lärm der vorbeiziehenden Menge und fragte nach:
HL: »Was ist denn da los?«
SG: Einige riefen ihm zu: »Jesus aus Nazareth kommt vorbei!« Als er das hörte, schrie er laut:
HL: »Jesus, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!«
SG: Die Leute, die der Menschenmenge vorausliefen, fuhren ihn an, er solle
still sein. Aber er schrie nur noch lauter:
HL (geht auf die Knie): »Jesus, hab Erbarmen mit mir!«
SG: Jesus blieb stehen und ließ den Mann zu sich führen. Als dieser nahe
herangekommen war, fragte er ihn: »Was soll ich für dich tun?«
HL: »Herr, ich möchte sehen können!«
SG: »Du sollst sehen können!«,
sagte Jesus zu ihm. »Dein Glaube hat dich geheilt.« Im selben Augenblick konnte der Blinde sehen. Er folgte Jesus und lobte
Gott. Und auch alle, die seine Heilung miterlebt hatten, lobten und dankten
Gott.“ (Lukas 18,35-43. Ende des Predigttextes)
Hast du schon mal so gebetet wie der Blinde von Jericho und gesagt: „Herr,
hab Erbarmen mit mir!“ Ja, das hast du so oft du am Sonntag einen traditionellen
Kirchengottesdienst besucht hast. Auch heute wieder. Du hast das, was der
Pfarrer auf Griechisch vorgesungen hat, auf Deutsch nach gesungen: „Kyrie
eleison – Herr, erbarme dich!“ Genau das waren die Worte des Blinden von Jericho,
die die Kirche in den Gottesdienst übernommen hat. Doch so zu rufen und zu
beten hat nur Sinn, wenn du auch glaubst, dass Gott, so wie er dir in Jesus
begegnet, Erbarmen mit dir hat.
Ein Blinder sieht tiefer
Das Merkwürdige dieser
Geschichte aus Jericho ist nun, dass im Grunde genommen die Sehenden blind und
der Blinde sehend war. Die vielen Leute, einschließlich der Jünger Jesu
glaubten nicht, dass Er sich des Blinden erbarmen würde. Deshalb wollten sie
ihn mundtot machen, weil er ihrer Meinung nach störte und fehl am Platz war. Aber,
so heißt es in der Geschichte, er fügte sich nicht, sondern schrie nur umso
lauter: „Jesus, hab Erbarmen mit mir!“.
Wer macht eigentlich dich mundtot, wenn du rufen möchtest und solltest „Herr, hab Erbarmen mit mir, hilf mir!“ Vielleicht sind das deine Zweifel, dein Kleinglauben oder deine Bequemlichkeit, die dich davon abhalten, so zu beten. Vielleicht sind es auch deine Sorgen, die dich gefangen nehmen oder die Alltagsgeschäfte, die dir kaum noch Zeit lassen, dich auf Gott und seine Hilfe zu besinnen.
Der Blinde von Jericho sah sozusagen mit
seinem inneren Auge die göttliche Kraft in Jesus, die ihn heilen konnte. Und er
wusste: Jetzt oder nie. Wenn ich nicht jetzt all meinen Glauben zusammenkratze und all mein Vertrauen auf ihn setze, dann bleibe ich für immer blind. Dann
muss ich für immer in der Nacht leben. Und darum scherte er sich nicht um die
Leute. Es ging ja nicht um ihre Meinung, sondern um seine Rettung. Sollten sie
von ihm halten, was sie wollten. Er würde sich nicht mundtot machen lassen. Er würde so lange und so laut schreien, bis
Jesus ihn hören musste. Und so geschah es auch.
Die Leute sahen in dem, was
Jesus sagte und tat, hauptsächlich ein Spektakel, ein Schauspiel, das ihre
Sensationslust befriedigte. Tiefer sahen sie nicht. Sie waren blind für Gott,
der in ihm zu ihnen kam. Aber der Blinde sah und schrie.
Zwischenbemerkung: Wen siehst
eigentlich du in Jesus? Wer und was ist er für dich? Wenn du im Gottesdienst „Herr,
erbarme dich“ singst, meinst du das wirklich so? Und kannst du in Jesus die
voraussetzungslose und grenzenlose Liebe Gottes sehen? Ich selbst habe lange
dazu gebraucht. Doch eines Tages sind mir beim Blick auf das Altarkreuz die
Augen aufgegangen. Und ich sah: Der da leidet und stirbt, tut das für mich. So
groß ist seine Liebe. Und viel später, wenige Jahre vor Ende meiner Dienstzeit, sah ich noch tiefer und sah: Der da
leidet und stirbt, tut das auch für seine Feinde. Und darum galt sein letztes
Gebet ihnen, als er am Kreuz sagte: »Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht
was sie tun«.
Die Würde des Blinden und unsere Würde
Doch
nun geschieht in unserer Geschichte noch etwas Bemerkenswertes. Jesus lässt den
Blinden zu sich bringen. Und dann? Nein, dann heilt er ihn nicht. Er prüft auch
nicht seinen Glauben. Prüft nicht seinen Lebenswandel. Verlangt kein
polizeiliches Führungszeugnis. Er achtet den Menschen in dem Blinden, er achtet
seine Würde. Und statt ihn schnell mal eben zu heilen, fragt er ihn: »Was
willst du, dass ich dir tun soll?« Natürlich wusste Jesus und wussten auch alle
Leute, die das miterlebt hatten, was der Blinde wollte. Doch er wollte ihn
nicht entmündigen, sondern aus seinem eigenen Mund den Wunsch hören. Der Blinde
war für Jesus nicht ein Objekt, nicht ein Gegenstand, den er behandelte. Er war
für ihn ein eigenständiger Mensch, der selbst handeln, der entscheiden und
sagen konnte, was er wollte.
Das Gleiche gilt auch für
dich und mich. Wir sind für Gott keine Marionetten, die er nach Belieben tanzen
lässt. Er hat uns Würde gegeben, die uns niemand nehmen darf. Für ihn sind wir
ein Gegenüber, sind seine selbstständigen Kinder, die sich für oder gegen ihn,
für oder gegen den Glauben entscheiden können. Und darum, so meine ich, sollten
wir von unserer Würde auch Gebrauch machen und ihm auch selbstständig und freiwillig
sagen, was wir wollen und wofür wir ihm danken.
Aber weißt du auch wirklich, was du von Gott willst? Das Sprichwort sagt: Ein Gesunder hat viele Wünsche, ein Kranker nur einen. Was ist zur Zeit dein größter Wunsch, dein wichtigstes Anliegen, das du Gott im Gebet sagen möchtest?
Natürlich weiß er, was ein jeder von uns braucht und will. Aber
er will es von uns selbst hören. Auf diese Weise machen wir uns bewusst, was
wir wirklich wollen und zeigen ihm unseren Glauben, indem wir ihm das sagen. Jedes
Gebet ist ein Ausdruck unseres Gottvertrauens. Und genau damit und dadurch
hilft er dir und mir, so wie er auch dem Blinden von Jericho geholfen hat.
Deshalb sagt Jesus am Ende der Geschichte: „Dein Glaube hat dich geheilt.“ Denn
ohne Glauben hätte er nicht aus ganzem Herzen „Kyrie eleison!“ gerufen, hätte
er nicht „Herr, hab Erbarmen mit mir!“ geschrien.
Nein, liebe Freunde, es kommt
nicht darauf an, was du alles glaubst, sondern wie du glaubst. Jesus prüft dein Glaubenswissen nicht. Aber ihm ist
dein Vertrauen wichtig. Zeige ihm mit deinen Gebeten, dass du ihm vertraust und
rechne fest damit, dass er dir helfen wird. Das geschieht nicht immer genau so
wie du es willst. Aber er hilft dir so, wie es für dich aufs Ganze gesehen am
besten ist. Amen
Siehe auch die Predigt zum selben Thema aus 2013