Sonntag, 23. Februar 2020

Tiefer sehen, mehr vertrauen. (Predigt) hl

Predigt von Hans Löhr am Sonntag Estomihi in den Kirchen in Thann und Sommersdorf. Predigttext: Lukas 18, 31-43


Liebe Gemeinde,
als ich das letzte Mal zu euch hier gepredigt habe, ging es um das Thema: „Es ist wichtiger, wie du glaubst als was du alles glaubst.“ Darum geht es auch in der biblischen Geschichte vom Blinden von Jericho, die heute unser Predigttext ist. Doch hört zunächst den ersten Teil, in dem davon die Rede ist, dass Jesu Jünger nichts begriffen haben.
 Jesus nahm seine zwölf Jünger beiseite und sagte ihnen: »Wir gehen jetzt nach Jerusalem. Dort wird sich alles erfüllen, was die Propheten über den Menschensohn geschrieben haben. Man wird ihn denen übergeben, die Gott nicht kennen. Die werden ihren Spott mit ihm treiben, ihn misshandeln, anspucken und schließlich auspeitschen und töten. Aber am dritten Tag wird er von den Toten auferstehen.« Die Jünger begriffen nichts. Was Jesus damit sagen wollte, blieb ihnen verborgen, und sie verstanden es nicht.“ Lukas 18,31-34.
Die Jünger sind sozusagen taub für das, was Jesus sagt, mehr noch, sie sind blind für das, wer Jesus ist und worum es ihm geht. Sie wollen und können nicht wahrhaben, dass er in der Hauptstadt Jerusalem auf Betreiben der Mächtigen in Staat und Kirche misshandelt und getötet werden wird. Ist er aus ihrer Sicht nicht Gottes Sohn? Ist er aus Gottes Sicht nicht sein Menschensohn? Da muss er doch für seine Gegner unangreifbar sein.
Der Weg ans Kreuz ist der Weg der Liebe
     Die Jünger erkennen nicht, dass Jesus den Weg der Liebe geht, genauer: der Feindesliebe. Nur auf diesem Weg kann er seine Freunde und Feinde, kann er uns und alle Menschen, ja die ganze Schöpfung erlösen. Denn, wie er selbst sagt, „niemand hat größere Liebe als wer sein Leben lässt für seine Freunde“ und nach seinem Tod muss man hinzufügen, auch für seine Feinde. Und die Feindesliebe ist nichts Geringeres als Gottes Liebe zu den Menschen. Sie ist mit Jesus auf die Welt und somit auch zu uns gekommen. Sie zeigt sich in allem, was er sagte und tat.
     Die meisten Menschen in der Bibel und auch später in der Kirche bis in unsere Gegenwart haben geglaubt und glauben noch, dass Gott nur seine Freunde lieben würde, dass Jesus nur sie erlösen würde. Alle anderen aber seien verdammt und verloren. Dieser Irrtum hat viel Leid in die Welt gebracht und hat dazu geführt, dass sich Christen bekriegt haben, weil sie sich gegenseitig den rechten Glauben abgesprochen haben.
     Wir heute können und dürfen glauben, dass kein Geschöpf verloren und verdammt ist, das Gott geschaffen hat. Auch der Mörder von Hanau, der sich der gerechten, menschlichen Strafe durch Selbstmord entzogen hat, ist und bleibt ein Kind Gottes. Das ist für uns nur schwer anzunehmen, weil unser Herz oft zu eng ist für unsere Feinde und Verbrecher. Ja, er wäre zu Recht von einem menschlichen Gericht abgeurteilt und dann lebenslang eingesperrt worden.
Gottes weites Herz
Aber Gott richtet und urteilt anders als wir Menschen das tun. Sein Herz ist weit genug auch für die Feinde. Darum heißt es in der Bibel von ihm, er sei barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte. Ich weiß, dass vielen das nicht gefällt. Ich habe selbst meine Probleme damit. Doch er tut nicht, was wir wollen, sondern was er will. Er regiert nicht nach unseren Vorstellungen, sondern nach seinen. Das habe ich zu respektieren.
     Und das haben auch Jesu Jünger nicht verstanden. Sie haben allzu menschlich von ihm gedacht. Sie haben übersehen, dass Jesus mit allen Geschöpfen seines himmlischen Vaters Erbarmen hat. Sie waren blind für seine voraussetzungslose und grenzenlose Liebe. Und davon handelt nun der zweite Teil des heutigen Predigttextes:

Ein Blinder wird geheilt

(HL: bindet sich eine Augenbinde um, wirft sich eine Decke über und nimmt einen Stock)
SG: Jesus und seine Jünger waren unterwegs nach Jericho. In der Nähe der Stadt saß ein Blinder an der Straße und bettelte. Er hörte den Lärm der vorbeiziehenden Menge und fragte nach:
HL: »Was ist denn da los?«
SG: Einige riefen ihm zu: »Jesus aus Nazareth kommt vorbei!« Als er das hörte, schrie er laut:
HL: »Jesus, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!« 
SG: Die Leute, die der Menschenmenge vorausliefen, fuhren ihn an, er solle still sein. Aber er schrie nur noch lauter:
HL (geht auf die Knie): »Jesus, hab Erbarmen mit mir!«
SG: Jesus blieb stehen und ließ den Mann zu sich führen. Als dieser nahe herangekommen war, fragte er ihn: »Was soll ich für dich tun?«
HL: »Herr, ich möchte sehen können!« 
SG: »Du sollst sehen können!«, sagte Jesus zu ihm. »Dein Glaube hat dich geheilt.« Im selben Augenblick konnte der Blinde sehen. Er folgte Jesus und lobte Gott. Und auch alle, die seine Heilung miterlebt hatten, lobten und dankten Gott.“ (Lukas 18,35-43. Ende des Predigttextes)
Hast du schon mal so gebetet wie der Blinde von Jericho und gesagt: „Herr, hab Erbarmen mit mir!“ Ja, das hast du so oft du am Sonntag einen traditionellen Kirchengottesdienst besucht hast. Auch heute wieder. Du hast das, was der Pfarrer auf Griechisch vorgesungen hat, auf Deutsch nach gesungen: „Kyrie eleison – Herr, erbarme dich!“ Genau das waren die Worte des Blinden von Jericho, die die Kirche in den Gottesdienst übernommen hat. Doch so zu rufen und zu beten hat nur Sinn, wenn du auch glaubst, dass Gott, so wie er dir in Jesus begegnet, Erbarmen mit dir hat.
Ein Blinder sieht tiefer
     Das Merkwürdige dieser Geschichte aus Jericho ist nun, dass im Grunde genommen die Sehenden blind und der Blinde sehend war. Die vielen Leute, einschließlich der Jünger Jesu glaubten nicht, dass Er sich des Blinden erbarmen würde. Deshalb wollten sie ihn mundtot machen, weil er ihrer Meinung nach störte und fehl am Platz war. Aber, so heißt es in der Geschichte, er fügte sich nicht, sondern schrie nur umso lauter: „Jesus, hab Erbarmen mit mir!“.
     Wer macht eigentlich dich mundtot, wenn du rufen möchtest und solltest „Herr, hab Erbarmen mit mir, hilf mir!“ Vielleicht sind das deine Zweifel, dein Kleinglauben oder deine Bequemlichkeit, die dich davon abhalten, so zu beten. Vielleicht sind es auch deine Sorgen, die dich gefangen nehmen oder die Alltagsgeschäfte, die dir kaum noch Zeit lassen, dich auf Gott und seine Hilfe zu besinnen.
     Der Blinde von Jericho sah sozusagen mit seinem inneren Auge die göttliche Kraft in Jesus, die ihn heilen konnte. Und er wusste: Jetzt oder nie. Wenn ich nicht jetzt all meinen Glauben zusammenkratze und all mein Vertrauen auf ihn setze, dann bleibe ich für immer blind. Dann muss ich für immer in der Nacht leben. Und darum scherte er sich nicht um die Leute. Es ging ja nicht um ihre Meinung, sondern um seine Rettung. Sollten sie von ihm halten, was sie wollten. Er würde sich nicht mundtot machen lassen. Er würde so lange und so laut schreien, bis Jesus ihn hören musste. Und so geschah es auch.
     Die Leute sahen in dem, was Jesus sagte und tat, hauptsächlich ein Spektakel, ein Schauspiel, das ihre Sensationslust befriedigte. Tiefer sahen sie nicht. Sie waren blind für Gott, der in ihm zu ihnen kam. Aber der Blinde sah und schrie.
     Zwischenbemerkung: Wen siehst eigentlich du in Jesus? Wer und was ist er für dich? Wenn du im Gottesdienst „Herr, erbarme dich“ singst, meinst du das wirklich so? Und kannst du in Jesus die voraussetzungslose und grenzenlose Liebe Gottes sehen? Ich selbst habe lange dazu gebraucht. Doch eines Tages sind mir beim Blick auf das Altarkreuz die Augen aufgegangen. Und ich sah: Der da leidet und stirbt, tut das für mich. So groß ist seine Liebe. Und viel später, wenige Jahre vor Ende meiner Dienstzeit, sah ich noch tiefer und sah: Der da leidet und stirbt, tut das auch für seine Feinde. Und darum galt sein letztes Gebet ihnen, als er am Kreuz sagte: »Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun«.
Die Würde des Blinden und unsere Würde
     Doch nun geschieht in unserer Geschichte noch etwas Bemerkenswertes. Jesus lässt den Blinden zu sich bringen. Und dann? Nein, dann heilt er ihn nicht. Er prüft auch nicht seinen Glauben. Prüft nicht seinen Lebenswandel. Verlangt kein polizeiliches Führungszeugnis. Er achtet den Menschen in dem Blinden, er achtet seine Würde. Und statt ihn schnell mal eben zu heilen, fragt er ihn: »Was willst du, dass ich dir tun soll?« Natürlich wusste Jesus und wussten auch alle Leute, die das miterlebt hatten, was der Blinde wollte. Doch er wollte ihn nicht entmündigen, sondern aus seinem eigenen Mund den Wunsch hören. Der Blinde war für Jesus nicht ein Objekt, nicht ein Gegenstand, den er behandelte. Er war für ihn ein eigenständiger Mensch, der selbst handeln, der entscheiden und sagen konnte, was er wollte.
     Das Gleiche gilt auch für dich und mich. Wir sind für Gott keine Marionetten, die er nach Belieben tanzen lässt. Er hat uns Würde gegeben, die uns niemand nehmen darf. Für ihn sind wir ein Gegenüber, sind seine selbstständigen Kinder, die sich für oder gegen ihn, für oder gegen den Glauben entscheiden können. Und darum, so meine ich, sollten wir von unserer Würde auch Gebrauch machen und ihm auch selbstständig und freiwillig sagen, was wir wollen und wofür wir ihm danken.
     Aber weißt du auch wirklich, was du von Gott willst? Das Sprichwort sagt: Ein Gesunder hat viele Wünsche, ein Kranker nur einen. Was ist zur Zeit dein größter Wunsch, dein wichtigstes Anliegen, das du Gott im Gebet sagen möchtest?
     Natürlich weiß er, was ein jeder von uns braucht und will. Aber er will es von uns selbst hören. Auf diese Weise machen wir uns bewusst, was wir wirklich wollen und zeigen ihm unseren Glauben, indem wir ihm das sagen. Jedes Gebet ist ein Ausdruck unseres Gottvertrauens. Und genau damit und dadurch hilft er dir und mir, so wie er auch dem Blinden von Jericho geholfen hat. Deshalb sagt Jesus am Ende der Geschichte: „Dein Glaube hat dich geheilt.“ Denn ohne Glauben hätte er nicht aus ganzem Herzen „Kyrie eleison!“ gerufen, hätte er nicht „Herr, hab Erbarmen mit mir!“ geschrien.
     Nein, liebe Freunde, es kommt nicht darauf an, was du alles glaubst, sondern wie du glaubst. Jesus prüft dein Glaubenswissen nicht. Aber ihm ist dein Vertrauen wichtig. Zeige ihm mit deinen Gebeten, dass du ihm vertraust und rechne fest damit, dass er dir helfen wird. Das geschieht nicht immer genau so wie du es willst. Aber er hilft dir so, wie es für dich aufs Ganze gesehen am besten ist. Amen

Siehe auch die Predigt zum selben Thema aus 2013

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