Passionserfahrungen
Predigt im
Lichtblick am 17.03.2013 von Elfriede Bezold-Löhr
In einer
anderen Welt
„Geschüttelt und gerührt, statt sportiv und cool – in dieser neuen Welt
bin ich angekommen. Ich bin angekommen, aber nicht heimgekommen. Mein Leib,
einst eine Festung, gleicht jetzt einer Baracke. In diesem wackeligen Gebäude
will ich erst gar nicht heimisch werden.“ (105)
Das schreibt Jürgen Mette, geboren
im Februar 1952. Jetzt gerade mal einundsechzig Jahre alt. Jürgen Mette gehört
inzwischen zu den ‚Parkis‘. Er selber nennt sich und andere so, die eines
verbindet: Morbus Parkinson. Die
Krankheit betrifft bestimmte Gebiete des Gehirns – und zwar diejenigen, die
beteiligt sind an der Kontrolle der menschlichen Bewegungen, der willkürlichen
und der unwillkürlichen. Bei Leuten, die an Parkinson erkranken, mangelt es an
bestimmten Botenstoffen im Gehirn. In Folge dieses Mangels werden die
Gehirnzellen irreparabel geschädigt. Parkinson äußert sich in
unkontrollierbaren Zitteranfällen, in Muskelstarre und in fortgeschrittenem
Stadium manchmal in einer maskenhaften Erstarrung des Gesichts. Bisher ist über
diese Krankheit noch längst nicht alles bekannt. Sie ist unheilbar, kann aber
mit Medikamenten deutlich beeinflusst werden. Jeder Krankheitsverlauf ist ganz
eigen, es gibt kein starres Muster.
„Herr P.“, wie Jürgen Mette die Krankheit nennt, hat ihn 2009 gepackt.
Bis dahin war das Leben von Jürgen Mette eine Reihe von gelingenden
Unternehmungen. Eine glückliche Kindheit, erfolgreiche Schulzeit, die Ausbildung
zum Zimmermann, daran anschließend ein Theologiestudium, dann fünf Jahre als
Jugendpfarrer, anschließend Dozent an einer theologischen Hochschule und die
Tätigkeit als Gemeindeberater, als Prediger und als Referent. ‚Nebenbei‘ eine
eigene Familie, drei Söhne.
Wie verhält sich ein Powertyp, ein Alphatier, ein Bühnenmensch wie Jürgen
Mette angesichts der Diagnose ‚Morbus Parkinson‘? Trägt ihn sein Glaube auch
jetzt? Hat das Bestand, was er selber über dreißig Jahre in hunderten von
Predigten anderen Leuten weitergegeben hat?
Der Theologe Henning Luther hat einmal gefragt: „Wenn ein Gesunder einem
Kranken gegenübersitzt - wer hat wem
etwas zu geben?“ Seine Antwort lautete: „Der Kranke dem Gesunden.“ Die
Begründung ist einfach: Denn der Gesunde kann vom Kranken etwas über das Leben
in der Krise lernen.
Das will ich heute mit euch: Lernen von Jürgen Mette. Ihm zuhören. Wer
weiß, wohin unsere Lebenswege noch führen und welche Hiobsbotschaften wir noch
hören werden. Es könnte sich noch als hilfreich erweisen, einen solchen
Vorkämpfer zu kennen.
Den Tag leben
In der Bergpredigt sagt Jesus: „Quält
euch nicht mit Gedanken an morgen; der morgige Tag wird für sich selber sorgen.
Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Last hat.“ (Mat.6, 34)
Bis Jürgen Mette diesen Satz als
für sich gültig wieder sagen kann,
vergehen drei Jahre. Auch heute quält er sich noch manchmal mit Bildern und
Gedanken, was noch werden könnte. Aber
es passiert immer seltener. Er will heute nur
diesen einen Tag bestehen.
Im Januar 2009 während der Aufzeichnung einer Fernsehsendung auf der
Wartburg in Thüringen merkt Jürgen Mette zum ersten Mal, dass er unkontrolliert
zittert. Er schiebt es auf die kalten Räume in der Burg. ‚Googelt‘ aber dann in
der Nacht im Stillen zum ersten Mal den Begriff ‚Parkinson‘ auf seinem PC. Er
erschrickt furchtbar und verdrängt dann. Wenn andere ihn fragen, ob mit ihm
etwas nicht in Ordnung sei, sagt er etwas von Überlastung und zu vielen
Terminen. An Ostern erleidet er am Ende einer Großveranstaltung einen Zusammenbruch.
Seine Kollegen beherzigen das, was im Jakobusbrief im Neuen Testament steht: „Ist jemand unter euch krank, so rufe er zu
sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl
in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und
der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm
vergeben werden.“ (Jak.5, 14 – 15)
Jürgen Mette wird von Gott aufgerichtet. Er weiß jetzt: Er muss sich den
Gegebenheiten stellen. Er braucht fachkundige Hilfe von Neurologen.
Den ersten behandelnden Arzt erlebt er menschlich als völligen Versager.
Dann findet er in Mittelhessen einen erfahrenen Spezialisten, der ihn
einfühlsam und zugleich sehr klar im Hinblick auf die Diagnose behandelt.
Der einstige ‚Hans im Glück‘ fällt in eine wochenlange Depression, als
absolut sicher feststeht, dass er an Parkinson leidet. Dann packt ihn die Wut:
„Wer bist du, Unbekannter? Wann
hast du dich heimlich in mein Leben geschlichen? Wo hast du dich so lange
versteckt, du Dämon der alten Leute, du Quälgeist der Tattergreise? Hau
gefälligst ab, du Undercover-Agent der neuen dementen Gesellschaft! Du kommst
viel zu früh! Melde dich nochmal, wenn ich 80 bin. Da zittern fast alle. (…) Wer
gibt dir das Recht, in meinem Kopf Blockaden zu errichten?
P., ich hasse dich! Und ich
werde dich täglich verachten. Ich denke nicht daran, mit dir mein Leben zu
teilen. Ich dementiere die Demenz, du Totengräber der Hoffnung auf einen
schönen Ruhestand.“ (21, 22)
Hilfe annehmen
Die größte Unterstützung in diesen Monaten ist für Jürgen Mette seine
Familie. Seine Söhne und seine Schwiegertöchter begleiten ihn – und vor allem
seine Frau hilft ihm sehr. Sie hat selbst erfolgreich ein paar Jahre vorher
eine Krebserkrankung besiegt - das volle
Programm mit Operation, Bestrahlung und Chemotherapie. Jetzt begleitet sie
ihren Mann auf eine Weise, die mich beeindruckt: Sie tröstet ihn stumm, wo jedes
Wort falsch wäre. Sie treibt ihn an, wo er zu bequem ist oder zu
selbstmitleidig. Sie bleibt sich treu in ihrem Gottvertrauen, das sie schon
durch ihr persönliches ‚finsteres‘ Tal hindurchbegleitet hat. Und --- sie sorgt
dafür, dass die schönen Dinge des Lebens jetzt nicht mehr aufgeschoben werden.
Reisen, die sie schon immer machen wollten, machen sie jetzt gemeinsam. Und wo
sie nicht mitkann, schickt sie ihren Mann mit einem Freund los.
Diese Freunde werden jetzt wichtig, manche sind ebenfalls an Parkinson
erkrankt. Da kommen neben anderen ein Professor im Ruhestand, eine
Religionswissenschaftlerin, ein international tätiger Sozialarbeiter und ein
Unternehmensberater zusammen. „Inzwischen sind wir 20 Betroffene mit
Ehepartnern. Diese zuversichtliche Leidensgemeinschaft tut uns allen so gut.
Uns verbindet die gemeinsame Überzeugung, dass wir unsere Situation im Glauben
annehmen und im Heute leben wollen, nicht in der Angst vor morgen.“ (95)
Drei Jahre, sagt Jürgen Mette, hat es gedauert, bis er voll und ganz zu
sich und seiner Situation stehen kann. „Ich habe Parkinson“ – das hören nach
seiner Familie und den Verwandten und engen Freunden nach und nach auch die
vielen Menschen in seinem beruflichen Netzwerk. Manche hatten es schon länger
geahnt und sind froh, als es jetzt endlich ausgesprochen ist. Wer an Parkinson
erkrankt, ist ja nicht mit einem Mal arbeitsunfähig – doch die Anzeichen kommen
unvermittelt und abrupt und es hilft den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, auf
solche möglichen Anfälle eingestellt zu sein.
Im Lauf der zurückliegenden drei Jahre hat Jürgen Mette auch manche
Verantwortungsbereiche abgegeben. Er hat beschlossen, sich in seiner Arbeit auf
zwei Themen zu konzentrieren: auf die Versöhnung und die Verständigung. Ihn
interessiert jetzt brennend die Frage, warum Menschen Gott und den Glauben
scheinbar hinter sich lassen und doch nie ganz davon loskommen. „Darum möchte ich gern noch ein paar Brücken
bauen. Brücken zwischen Zweiflern und Bekennern, zwischen Atheisten und
Frommen. (…) Ich möchte im Namen des Heilandes einen kleinen Beitrag zur
Heilung des Landes leisten. Als chronisch Kranker, als zitternder Zeuge einer
inneren Heilung, die ein wankendes Leben hält und trägt.“ (170, 171)
Biblischen
Texten neu begegnen
Jürgen Mette liest viele biblische Texte jetzt neu. Manche kann er fast
nicht mehr predigen – dazu gehören auch die Erzählungen von wunderbaren
Heilungen im Neuen Testament. Was er früher vollmundig, aber in Manchem
ahnungslos aus einem fröhlichen ‚Halleluja-Glauben‘ heraus gesagt hat, bleibt
ihm heute im Hals stecken.
Er wird leiser und vorsichtiger in dem, was er sagt und in seinen
Predigten fordert. Er entschuldigt sich heute bei den Menschen, die er früher
mit seinem starken und beeindruckenden Auftreten einfach überrollt hat.
Am stärksten trägt ihn in diesen Krisenzeiten das Buch Hiob. Dort findet
er alles wieder, was ihn selber umtreibt: die Verzweiflung, die gescheiterte
Suche nach Gott, das Klagen und das Resignieren. Es tröstet ihn, dass auch das
Elend in der Bibel zuhause ist und zur Sprache kommt.
Wir leben gegenwärtig in der Passionszeit. Zwölf Tage sind es noch bis
zum Karfreitag. Wer unter uns sich auf diese Zeit einlässt und der Frage nach
dem Leiden stellt, der kann sich von Jürgen Mette an die Hand nehmen und führen
lassen. Ich bin froh, dass er den Mut hatte, ‚aufzumachen‘ und von sich zu
erzählen. Die Erfolgsgeschichten erzählen sich leicht – Leidensgeschichten
macht man nicht so schnell offenbar. Was Jürgen Mette zu sagen hat, macht
nachdenklich und mutig zugleich. Möge Gott ihm seinen Glauben bewahren. Amen.
(Alle Zitate von Jürgen
Mette sind folgendem Buch entnommen: »Alles außer Mikado. Leben trotz
Parkinson«. Gerth Medien GmbH, 2013)