Sonntag, 17. Januar 2016

'Haltegriffe' hl

Lichtblickpredigt von Hans Löhr

Lesung:
Jetzt aber bleibe ich immer bei dir, denn du hältst mich bei der Hand. Du führst mich nach deinem Plan und nimmst mich am Ende in Ehren auf. Herr, wenn ich nur dich habe, bedeuten Himmel und Erde mir nichts. Selbst wenn alle meine Kräfte schwinden und ich umkomme, so bist du doch, Gott, allezeit meine Stärke - ja, du bist alles, was ich habe! Psalm, 73,23-26

Liebe Freunde,

in einer Zeit, in der Europa auseinander zu brechen droht und auch unser Land wegen der Flüchtlinge eine Zerreißprobe durchlebt, fragen sich viele, woran kann man sich jetzt festhalten? Auch die Politiker wissen ja nicht genau wie es weitergeht, und unsere Gesellschaft scheint tief verunsichert zu sein. Was wird werden? Wird es uns gelingen, die Lage zu beruhigen, weiterhin Herz statt Hass zu zeigen und besonnen zu bleiben statt in Panik auszubrechen?
Es geht aber auch um die Frage, woran sich jeder einzelne von uns festhalten kann in persönlichen Krisen, wenn ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird und alles ins Wanken kommt, wenn die Gesundheit zerbricht oder die Partnerschaft, wenn die finanzielle oder berufliche Basis wegbricht, wenn große gesellschaftliche Probleme unser kleines, privates Leben bedrohen.
Doch auch wenn die Situation ernst ist, sollten wir unseren Lebensmut und Humor nicht verlieren. Deshalb nun eine höchst ungewöhnliche Frage: Wer von Ihnen, wer von euch war schon mal auf dem weltgrößten Heavy-Metal-Festival in Wacken in Schleswig-Holstein? Niemand? Ich auch nicht. Hat jemand von euch Lust, mit mir auf dem Motorrad im nächsten Sommer zu diesem Festival zu fahren? Heavy Metal, das ist laute, super laute Rockmusik, dass einem die Ohren wegfliegen. Und auf einem solchen Festival sind viele schräge Typen. Was hältst du also davon, wenn wir dabei wären und mitrocken würden bei dem Songs von AC/DC oder bei einem Song von Lemmy Kilmister wie „Enter Sandman“ oder „Killed By Death“?
Eifrige Zeitungsleser haben es vermutlich mitbekommen, dass an Weihnachten Lemmy Kilmister, der Chef der Hardrock-Band Motörhead mit 70 Jahren an Krebs gestorben ist. Lemmy war mit seinem Aussehen und Auftreten, seiner Einstellung und seinem Lebenswandel so ziemlich das Gegenteil von jedem von uns hier. Doch für Hunderttausende seiner Fans in aller Welt war er eine Kultfigur: absolut eigenwillig und unangepasst.

Kurz nach seinem Tod traf ich einen solchen, nicht mehr ganz so jungen Fan. Für ihn war Lemmy Kilmister ein Idol. Ich habe den Mann in den 14 Jahren, die ich in meiner letzten Gemeinde war, nie im Gottesdienst gesehen geschweige denn bei einer anderen Gemeindeveranstaltung. Aber als Pfarrer bin ich ein-, zweimal mit ihm ins Gespräch gekommen.
Bei unserer letzten Begegnung also sagte ich zu ihm: „Schon schade, dass der Lemmy gestorben ist.“ Da sah er mich mit großen Augen an und wusste nicht so recht, worauf ich hinaus wollte. „Na“, sagte ich, „Lemmy Kilmister von Motörhead.“ Da wurden seine Augen groß wie Wagenräder: „Was, Sie kennen Motörhead?“ „Freilich, warum nicht?“ „Das ist ja cool! Das hätte ich nie im Leben gedacht. Kennt der Pfarrer Motörhead!“ Da wusste ich, bei dem habe ich ab sofort einen Stein im Brett.
Und dann erzählte er mir, dass er schon auf verschiedenen Heavy-Metal-Festivals war. Doch das war noch nicht alles. Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Und jetzt sage ich Ihnen was, das Sie vielleicht überrascht. Mein ganzer rechter Arm ist tätowiert. Und oben, an der Schulter, ist mein Konfirmationsspruch. Und auf dem Unterarm hab ich Jesus.“ Dann krempelte er den Ärmel hoch bis zum Ellbogen, denn weiter ging‘s mit Winterbekleidung nicht, und zeigte mir sein Tattoo. Jetzt war ich es, der große Augen machte und sagte: „Ist ja cool! Dann haben Sie Jesus ja überall dabei und können ihn nicht mehr verlieren.“

Ich weiß nicht, wie gut dieser Mann Jesus kennt. Ich weiß nicht, ob sein Glaube unseren Bekenntnisschriften entspricht. Nun gut, das weiß ich von euch hier auch nicht. Aber der Glaube, aber Jesus muss ihm offenbar etwas bedeuten, sonst hätte er ihn sich nicht auf seinen Arm tätowieren lassen. Sonst hätte er ihn mir nicht gezeigt. Möglicherweise ist es ja so, dass er sich sagt: „Ich bin vielleicht kein so guter Christ und kenne mich mit dem Glauben auch nicht so gut aus. Aber mir ist Gott trotzdem wichtig und Jesus auch. Und wenn es mir mal nicht so gut geht, halte ich mich an ihm fest. Dann soll er mich beschützen und mir helfen.“

Was meint ihr, liebe Freunde, reicht eine solche Einstellung für den Glauben? Vorhin, nach dem ersten Gottesdienst, sagte eine Frau zu mir, dass so ein Tattoo doch zu wenig wäre. Ich denke, es kommt darauf an, um wen es sich handelt. Zu mir würde Jesus sagen: ‚Schön und gut mit dem Tattoo, aber von dir erwarte ich noch etwas anderes.‘ Zu dem Heavy Metal Fan aber sagt er: ‚Wunderbar, das gefällt mir‘. Müssen nicht zumindest wir hier ein bisschen mehr wissen und bekennen und tun, zum Beispiel, dass man am Sonntagvormittag hierher in den Gottesdienst kommt? Nun gut, schaden tut das bestimmt nicht. Im Gegenteil. Aber, wenn‘s hart auf hart kommt im Leben, wenn du keine Zeit mehr hast, dir viele theologische Gedanken zu machen, dann fokussiert sich, dann konzentriert sich der Glaube eines jeden von uns auf das absolut Nötigste.

In der Bibel wird von einer Frau erzählt, die Blutungen hatte, die kein Arzt stillen konnte. Als Jesus vorbeikam, drängte sie sich durch die Menge und hielt sich an seinem Gewand fest. Sofort hörte die Blutung auf. Wohl gemerkt, sie hielt sich nur fest, sprach kein Gebet, keine Bitte, kein Glaubensbekenntnis. Und Jesus? Er drehte sich zu ihr um und sagte: „Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh hin in Frieden!“ Ich meine, entscheidend ist nicht, ob ich viel oder wenig glaube. Manchmal genügt auch ein Glaube so groß wie ein Senfkorn, sagt Jesus an anderer Stelle. Entscheidend ist, wem ich vertraue und an wen ich mich halte. Und da kenne ich keinen besseren Haltegriff als ihn.

Ich war mit einem alten Pfarrer befreundet, der sowas wie ein Vorbild für mich war. Der war ein richtiges Mannsbild, wie man in Bayern sagt. Groß gewachsen und mit Schmiss auf der Backe. Gegenüber den Nazis war er unbeugsam. Deshalb war er im KZ, stand er vor dem Kriegsgericht. Im letzten Krieg wurde er in Russland schwer verwundet. Als er so in seinem Blut lag und damit rechnete, dass es nun aus sei, sprach er nicht das Glaubensbekenntnis, zitierte er nicht schwergewichtige Bibelverse, sondern betete Strophen eines Kinderlieds:
Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt.
Das hat er gebetet, mehr nicht. Das war sozusagen in seine Seele tätowiert. Das hatte ihn getröstet. Das hatte ihm Halt gegeben, als er sonst keinen Halt mehr fand. Und als er wider Erwarten gerettet wurde, hat er diesen Augenblick nicht mehr vergessen.

Bei einem anderen Bekannten, ebenfalls einem Kollegen, ging es nicht so gut aus. Er hatte einen Gehirntumor. Da war er gerade mal 52. Sein Name ist Friedrich Walz. Von ihm stammen einige geistliche Lieder, so zum Beispiel „Komm, sagt es allen weiter“, das auch im Gesangbuch steht.
Nach der ersten Operation erholte er sich ganz gut. Danach erzählte er, was er damals im Operationssaal gebetet hat: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Kücklein ein. Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein.“ Kennt das jemand hier? Nach der Operation lebte er noch ein Jahr und stärkte mit seinem Glauben andere Menschen.

Wieder ist es ein Kindergebet, das einem gestandenen, theologisch gut ausgebildeten Pfarrer Trost und Halt gegeben hat. Gut, wenn man einen solchen „Haltegriff“ hat, wenn der Boden unter den Füßen wankt. ‚Aber‘, mag jetzt einer einwenden, ‚er ist trotzdem gestorben.‘ Ja. Doch spricht das gegen den Trost, den dieser Mann bekommen hat? Spricht das gegen den Halt, den er in seiner schweren Zeit gefunden hat? Aber nicht nur wenn‘s ans Sterben geht, sondern auch sonst mitten im Leben brauche ich manchmal einen Halt, den Menschen nicht geben können. Und an mir selbst kann ich mich ja auch nicht festhalten.

„Haltegriffe“ – heißt das Thema dieser Predigt. Haltegriffe, wenn die Erde unter dir bebt und dein Leben zu zerbrechen droht. Haltegriffe in höchster Not, wenn sonst weit und breit nichts mehr ist, das dich halten und trösten kann. Haltegriffe aber auch nach einer schlimmen Nacht, wenn du keine Kraft hast, in den neuen Tag zu gehen. Vielleicht hast du ja auch solche Griffe, an denen du dich festhalten, an denen du dich wieder hochziehen kannst. Vielleicht hast du das sogar schon mal erlebt, dass du dann ein Kindergebet gebetet hast oder einfach nur eine Kerze angezündet, damit es wieder ein bisschen heller wird.

Ich jedenfalls brauche solche Haltegriffe. Mal ist es ein Bibelwort, mal ein Vers aus meinem Gesangbuch. Und du? Was ist dein Haltegriff? Woran kannst du dich im entscheidenden Augenblick festhalten ohne vorher lang nachdenken zu müssen? Was ist in deine Seele tätowiert?
Einen Haltegriff verrate ich noch: Wenn es mir mal nicht gut geht und ich lange nicht einschlafen kann, zeichne ich das Kreuz mit dem Daumen auf mein Herz. Auch das ist ein Haltegriff, eine kleine Geste nur, aber sie beruhigt und hilft.

Also, was ist? Fährt nun jemand mit mir auf dem Motorrad zum Heavy-Metal-Festival nach Wacken? Jesus ist schließlich auch dort. Der eine bringt ihn als Tattoo auf seinem Unterarm mit, die andere an ihrer Halskette, ein dritter hat seinen Rosenkranz am Motorrad angebracht und wer weiß, auf welchen Wegen Jesus sonst noch zu solchen Festivals kommt.
Wenn ich‘s mir genau überlege, werde ich wohl doch nicht hinfahren, weil ich da nur mit einem Hörsturz zurückkäme. Und so ein großer Fan von Heavy Metal bin ich nun auch wieder nicht.

Aber so viel ist klar, Jesus ist auch da, wo gerade wir Kirchenchristen ihn kaum vermuten: Zuerst im Stall. Es gibt wohl keinen tieferen Ort an dem Gott in Jesus zur Welt kommen wollte, als inmitten der stinkenden Pisse von Ochs und Esel ohne Weihnachtsduft und Glaskugeln, um denen nahe zu sein, die auch ganz unten sind. Und darum finden wir Jesus auch bei den Kriminellen im Gefängnis. Bei den Mädchen im Bordell. Bei den Rockern in der Bar. Bei den Suchtkranken in der Klinik. In den Fanclubs von Bayern München. Erst recht bei den Club-Fans, die brauchen ihn noch mehr. Und er ist auch bei dir, wie immer es dir gerade geht, wie klein oder groß dein Glaube sein mag. Er ist nur ein Gebet weit weg. Er ist der Haltegriff schlechthin. Er reicht dir seine Hand. Jetzt liegt es an dir, sie im Glauben zu greifen, damit er dich halten kann. Amen


PS: Nach dem Gottesdienst wurde von Besuchern der Vorschlag gemacht, doch einmal einen Gemeindeausflug nach Wacken zu organisieren. Ohrstöpsel wären im Fahrpreis inbegriffen.

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