Sonntag, 1. Oktober 2017

Silberstreif am Horizont (Predigt) hl

Erntedankfest 2017

Liebe Gemeinde,

wir hatten im Sommer in unserem Pfarrgarten noch nie so viele Insekten, Vögel und seltene Tiere wie dieses Jahr: Noch jetzt schwebt um den blühenden Asternbusch eine Wolke von Schmetterlingen, hauptsächlich Pfauenaugen und Füchse. Als die Linde blühte und später der Majoran und der wilde Wein summten tausende von Bienen ihr Lied. Hummeln und Wildbienen bevölkerten die kleine Blumenwiese, die wir für sie angelegt haben. Erstmals seit vielen Jahren ließen sich wieder Laubfrösche blicken. Ein Laubfrosch-Baby saß sogar tagelang in einer Rosenblüte. Über den Gartenteich und den Mühlbach, der durch den Garten fließt, schossen pfeilschnell die Eisvögel oder verharrten sekundenlang wie Kolibris in der Luft, um nach Beute Ausschau zu halten. Auch andere Vögel zwitscherten, trällerten und sangen von den Bäumen und Dächern ihre Lieder. Alle Nistkästen waren belegt, manche sogar mehrmals.

Doch die große Freude über die in den letzten Jahren zunehmende Lebensvielfalt in unserem Garten hat leider auch eine bittere Kehrseite. Denn der Grund, warum sich so viele Insekten und Vögel bei uns haben blicken lassen, ist einfach und erschreckend: Unser Garten ist für sie ein Zufluchtsort, eine Oase inmitten einer grünen, lebensfeindlichen Wüste. Selbst die Städte sind inzwischen zu Rückzugsorten vieler Tierarten geworden, die auf dem Land nicht mehr überleben können. Kiebitz, Lerche und Rebhuhn haben in den Altmühlwiesen dramatisch abgenommen. Auch die Schwalben sind auf dem Rückzug, um nur ein paar Vogelarten zu nennen, deren Bestand bedroht ist. In China müssen inzwischen die Obstblüten mit dem Pinsel in der Hand bestäubt werden, weil es an Insekten fehlt. Ansonsten gäbe es bereits Engpässe beim Obstanbau.
So viel ist bis jetzt bekannt: Je weniger Wildblumen, desto weniger Insekten, desto weniger Vögel. Oder anders gesagt: Das große Sterben hat begonnen. Wie wird es weitergehen?

Früher war das Erntedankfest ein Höhepunkt im Kirchenjahr. Wir alle konnten es unbefangen feiern ohne dass man besorgt nachfragen musste, wie denn die Ernte zustande kam, wie die Felder bewirtschaftet wurden, wie gedüngt wurde, was gespritzt wurde, ob genverändertes Saatgut ausgebracht wurde.
Mit dieser Unbefangenheit ist es vorbei. Je schöner das Obst im Supermarkt, desto mehr Spritzmittel werden eingesetzt. Je billiger die Milch, desto mehr Gülle kommt auf die Wiese, desto mehr Nitrat gelangt ins Trinkwasser, desto mehr Silage wird verfüttert, desto mehr Hochleistungskühe werden dafür in Massen gehalten und mit Arzneimitteln behandelt.

Doch es gibt auch einen Silberstreif am Horizont. Die Nachfrage nach Bio-Lebensmitteln ist längst im Supermarkt angekommen. Wer mag schon noch Eier essen von Hühnern, die in Legebatterien gehalten werden? Wem schmeckt noch das minderwertige Fleisch von Tieren aus der Massentierhaltung? Offenbar kapieren immer mehr Menschen, dass Geiz und Gier sie krank machen und ihnen zum Verhängnis werden.

Und darum lasst uns heute am Erntedankfest Gott wieder danken für seine Segenskraft, die in der Natur steckt. Denn es sind ja nicht nur Sonne und Regen, die unsere Nutzpflanzen wachsen und gedeihen lassen. Mindestens genauso wichtig sind die zahllosen Kleinstlebewesen, die Mikroorganismen in den gesunden Böden, die für Fruchtbarkeit sorgen, die Bakterien und Amöben, die Geißel- und Wimperntierchen, Asseln, Pilze, Springschwänze und nicht zuletzt der Regenwurm, der Helfer des Menschen in Gärten und Feldern.
In dieser Hand voll Erde leben 100 Insekten, 110 Gliederwürmer, 250 Springschwänze, 250 000 Fadenwürmer, 7 500 000 Urtierchen oder Einzeller, 12 500 000 Algen, 100 000 000 Pilze 125 000 000 Bakterien. Das alles in nur einer Hand voll gesunder Erde. Das macht unsere Böden fruchtbar. Das, liebe Freunde, ist Gottes reicher Segen, den wir so oft übersehen. Wir können dafür gar nicht genug danken. Und darum werde ich nachher diese Hand voll Erde auf den Erntedank-Altar legen.

Ja, heute danken wir für die Früchte des Gartens und der Felder. Wir sagen zwar, wir würden sie produzieren. Aber das stimmt nicht. Wir produzieren die Feldfrüchte und Nutztiere genausowenig wie unsere eigenen Kinder. Denn alles, was wir sind und haben, ist Gnade, ist Gottes Geschenk. Darum sollten wir ihm auch für die Voraussetzungen danken, dass diese Früchte wachsen und wir davon leben können: Für Sonne und Regen, Hitze und Frost, für ein intaktes Klima, für die zahllosen Kleinstlebewesen, die unsere Böden fruchtbar machen und schließlich auch für die Arbeit des Menschen. Das alles zusammen ist Gottes Segen. Wir alle müssen gemeinsam darauf achten, dass wir diesen Segen nicht verpfuschen und zerstören. Denn die Folgen sind nicht nur für die Tiere, sondern auch für uns Menschen verheerend. Wir werden doch nicht weiter an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Wir werden doch um Gottes willen und um unsertwillen künftig klüger, verantwortungsbewusster, demütiger und dankbarer sein als bisher. Das hoffe ich.

Und auch das macht mir Hoffnung: Die Zahl der Menschen, die den großen Zusammenhang in der Natur versteht, in den auch wir eingebettet sind, nimmt zu. Immer mehr werden sich der Verantwortung für die Natur und das Klima bewusst, die jeder von uns hat. Nicht nur die Zahl der Insektenhotels in den Vorgärten ist sprunghaft angestiegen. Die Gärten selbst werden naturnäher. Die Blumenwiese löst allmählich den sterilen Rasenteppich ab. Die für Insekten nutzlosen Edelrosen werden durch nahrungsreiche Wildrosen ersetzt. In den Gartenwinkeln liegen inzwischen Ast- und Laubhaufen. Immer mehr Nistkästen werden aufgehängt und Futterstellen für Vögel eingerichtet. Mein Eindruck ist, dass die Menschen nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten zunehmend den Reichtum und die Schönheit der Natur entdecken und dass sie aktiv etwas dafür tun wollen. Das ist ein weiterer Silberstreif am Horizont.
Diese Entwicklung gilt es zu stärken und zu stützen. Da kann jeder einzelne von uns im Kleinen etwas dazutun. Jeder hier kann an seinem Ort einen Beitrag für eine gesunde Natur leisten, in der Mensch und Tier auch in Zukunft zum gegenseitigen Nutzen zusammen leben. Jeder von uns kann an der Fleischtheke und im Gasthaus fragen, woher das Fleisch kommt, das er essen möchte und ob die Tiere auch artgerecht gehalten werden.
Denn nicht nur der Mensch, sondern auch die Tiere, nicht nur die, die man streicheln kann, sondern auch die, die unsichtbar im Boden leben sind Gottes Geschöpfe. Sie gehören nicht uns, sondern ihm. Er hat sie und die gesamte Natur uns anvertraut, damit wir pfleglich damit umgehen, die Erde bebauen und bewahren und diesen schönen Lebensort auch unseren Kindern und Kindeskindern vererben können. Auch deshalb feiern wir heute Erntedank.

Amen

Hans Löhr 

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