Lichtblickpredigt von Hans Löhr
Wie
Mircos Eltern die Katastrophe überlebt haben
Liebe Freunde,
auch heute Morgen
sind wieder Menschen unter uns, die gerade eine schwere Zeit durchmachen. Für
sie ist diese Predigt in erster Linie gedacht. Doch das Thema „Der Glaube
trägt” geht uns alle an. Die meisten von uns waren schon in Situationen, wo sie
Hilfe von außen und Kraft von oben gebraucht haben. Und wahrscheinlich werden
wir alle auch künftig in eine Lage kommen, wo dies nötig ist. Da ist es dann
gut zu wissen, dass der Glaube trägt.
Am 7. September war
in der Fränkischen Landeszeitung ein Artikel mit der Überschrift „Vergeben und
weiterleben – wie Mircos Eltern damit fertig werden, dass ihr Sohn nie mehr
wieder kommt.” Anlass war das neu erschienene Buch „Mirco”, in welchem Sandra
und Reinhard Schlitter ihre Erfahrungen mit dem Verbrechen an ihrem Sohn
verarbeitet haben. Das Ehepaar hatte vier Kinder: Alexander, Julia, Mirco und
Judith. Am 03.09.2010 haben sie Mirco verloren. Doch erst nach 145 Tagen hatten
sie endgültig die traurige Gewissheit, dass er tot ist. Da wurde der Mörder
gefasst und Mircos Leiche gefunden. Ich werde hier nicht über die Einzelheiten
dieses Verbrechens berichten. Wer möchte, kann das alles in dem Buch „Mirco”
nachlesen. Mich hat es so sehr beeindruckt und berührt, dass ich es in einem
Zug durchgelesen habe.
In dieser Predigt
geht es mir vor allem um den Glauben der Eltern und darum, wie er sie getragen
hat und noch immer trägt. Beide sind Mitglied einer evangelischen Freikirche
und seit Kindertagen gläubig. Ich werde im Folgenden hauptsächlich Sandra und
Reinhard Schlitter selbst zu Wort kommen lassen. Sie schreiben:
»Wenn dieser ganze
Irrsinn von Mircos Tod doch noch irgendeinen Sinn haben sollte, dann vielleicht
diesen: Dass wir davon erzählen, wie das Leben nach einem solchen Schlag
weitergehen kann; dass wir unsere Erfahrungen weitergeben, die anderen Menschen
vielleicht ein Licht in dunklen Stunden sein können. Dass bei allem Unbegreiflichen,
was uns im Leben widerfährt, noch Platz ist zur Hoffnung und Vergebung. Und
dass wir nicht an der Frage zerbrochen sind, warum Gott so etwas zulässt,
sondern von ihm durch diese ganze Zeit getragen worden sind.«
Nachdem klar war,
dass ihr Sohn einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, waren es drei Dinge, die dem Ehepaar Schlitter
halfen, Schock und Sprachlosigkeit überwinden:
Zum einen haben sie
bereitwillig und intensiv mit der Polizei zusammengearbeitet. Reinhard
Schlitter sagt: »Neben den Beamten des Opferschutzes haben uns die Leute von
der Sonderkommission Mirco tief beeindruckt und geholfen: Durch ihre
Professionalität, ihren unermüdlichen Einsatz, ihr Mitgefühl und die manchmal
gnadenlose, aber doch wohltuende Offenheit ihrer Mitteilungen. So sagte der
leitende Kommissar zu uns: „Ich bringe Ihnen Ihr Kind zurück. Ich kann Ihnen
nur keine Hoffnung machen, dass Mirco noch lebt.” Gerade diese schonungslose
Offenheit war der Schlüssel für uns, dem Kommenden vorbereitet ins Auge zu
sehen und unsere Energie nicht auf illusionäre Rettungsfantasien zu
verschwenden. So brutal sie war: Die Wahrheit war für uns die beste Chance, das
Geschehene zu begreifen.«
Das zweite, was den
Schlitters geholfen hat, war, dass sie sich ganz bewusst einander zugewandt
haben. Sie haben sich versprochen, einander keine Vorwürfe zu machen, sich
gegenseitig keine Schuld zuzuschieben. Sie waren von Anfang an bereit, sich
jedes mögliche Versäumnis zu vergeben. So haben sie Seite an Seite die
Katastrophe durchschritten, haben sich gegenseitig gestützt und unterstützt,
haben das Eheversprechen eingelöst, in guten wie in bösen Tagen füreinander
einzustehen. Viele Ehen und Familien zerbrechen in einer solchen Katastrophe
auch, weil sich jeder in die Einsamkeit seiner Verzweiflung zurückzieht und in
Selbstvorwürfen wie in Vorwürfen gegenüber dem andern ertrinkt. Sandra und
Reinhard Schlitter wussten, dass das einsame Grübeln nur in eine Abwärtsspirale
führt, aus der es kein Entrinnen gibt. Auch blieben sie offen und
gesprächsbereit für ihre Kinder, die eigenen Eltern und nahestehende Freunde.
Und sie machten sich immer wieder klar: Was geschehen ist, ist geschehen. Wir
können es nicht mehr ändern. Aus und vorbei.
Das Wichtigste aber,
das ihnen half, die Katastrophe zu überleben, war ihr Glaube und dabei vor
allem das Gebet. Sie beteten allein, jeder für sich. Sie beteten als Ehepaar
miteinander. Sie beteten mit ihren Kindern. Und regelmäßig an den Abenden
dieser schweren Zeit mit einem kleinen Kreis von Menschen, die ihnen besonders
nahe standen. D.h. sie redeten nicht nur mit anderen Menschen, sondern waren auch
mit Gott in einem intensiven Gespräch.
Sandra Schlitter
sagt: »Was uns von Anfang an Halt gegeben hat, war das Vertrauen auf Gott:
„Herr, wir wissen, du wirst uns helfen, egal, was passiert ist. Du wirst uns
beistehen.” Ich hatte das Grundvertrauen: Gott ist da! Er weiß, wo wir sind. Er
weiß, wie wir fühlen. Wir sind nicht allein.«
Und dann haben die
beiden auch gespürt, wie sie vom Gebet so vieler Menschen um sie herum getragen
wurden wie von einer Welle. Sandra sagt: »Das ist eine Kraft, die man zum
Überleben braucht, wenn die Verzweiflung jeden Morgen neu an die Haustür
klopft. Diese Kraft haben wir noch nie so gefühlt wie in diesen Tagen.« Und ihr
Mann Reinhard ergänzt: »Wir sind fest davon überzeugt, dass kein Gebet
wirkungslos ist. Gott hört alle Bitten, Anliegen und Wünsche, die an ihn
herangetragen werden. Wenn er auch oftmals nicht so darauf antwortet, wie wir
es gern gehabt hätten – er reagiert immer. Und kein Wort, das an ihn gerichtet
wird, geht einfach verloren oder verpufft im All. Zu wem sonst hätten wir gehen
sollen, der nicht ebenso hilf- und ratlos gewesen wäre wie wir selbst?«
Aber die beiden
haben, wie gesagt, nicht allein gebetet. In ganz Deutschland, ja weltweit haben
Menschen an ihrem Schicksal Anteil genommen. Eine Nachbarin sagte zu ihrer
konfessionslosen Bekannten: „Du könntest jetzt endlich auch mal für Mirco
beten.” Am nächsten Tag rief die Bekannte die Nachbarin an: „Du, ich hab's
wirklich getan, nach vielen Jahren hab ich zum ersten Mal wieder gebetet.”
Auch die vielen
kleinen Gesten der Nächstenliebe, die die Familie in dieser Zeit bekommen hat,
haben ihr gut getan: Das Verständnis der Arbeitgeber, dass die Eltern auf
unbestimmte Zeit nicht zur Arbeit gehen konnten, die Hilfe für die Kinder von
Seiten der Schule, die vielen Hilfsangebote von allen Seiten.
Zum Weiterleben geholfen
hat auch die Rückkehr in den Alltag. Die Mutter sagt: »Es ist die Kraft der
Routine und der Beschäftigung, die uns in der absoluten psychischen
Ausnahmesituation auf den Beinen gehalten hat. Nach meiner Erfahrung sollten in
solchen Zeiten Bügelbretter von der Krankenkasse bezahlt werden. So etwas kann
hilfreicher sein als die tollste Psychopille.«
Doch zum Glauben,
der die Schlitters getragen hat und trägt, gehört auch die Bereitschaft, dem
Mörder ihres Kindes, einem 45-jährigen Familienvater aus dem Nachbardorf, zu vergeben. In einem Zeitungsinterview sagte der
Reporter: »Der Täter hat nicht nur Ihr Kind getötet. Er hat auch Ihren
Fernsehappell ignoriert, in dem Sie ihn baten, mitzuteilen, wo sie Mirco finden
können. Selbst vor Gericht hat er zu seiner Tat geschwiegen, obwohl Sie sich
wünschten, er möge Licht ins Dunkel bringen. Viele Menschen würden urteilen,
dieser Mann habe keine Vergebung verdient.«
Darauf antwortete
Reinhard Schlitter: »Wenn ich allein meiner Natur als Mensch folgte, könnte ich
nur fordern, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Aber den Mörder zu töten gibt
mir keinen Frieden; ihm zu vergeben dagegen schon. Ob er über die
Gefängnisstrafe hinaus einst zur Rechenschaft gezogen wird, das überlasse ich
Gott. Er kann als Einziger den Wert eines Menschen beurteilen. Es befreit
ungemein, diese Entscheidung an Gott abzugeben.«
Und seine Frau
Sandra sagt zum selben Thema: »Wir wollen den Wahnsinn der Tat nicht noch
dadurch belohnen, dass wir in die Gefahr geraten, uns zu vergessen und Gleiches
mit Gleichem zu vergelten. Wir wollen unsere Herzen nicht von diesen negativen
Gefühlen vergiften lassen. Wir wollen nicht, dass das Böse in uns noch einmal
triumphiert. Deshalb haben wir den Täter ganz bewusst vergeben. Wir tun ihm
nicht den Gefallen, den er offensichtlich in seinem Innersten ersehnt, ihn zu
verdammen. Nein, er ist ein belasteter Mensch, der nicht wusste, wohin mit seiner
Last. Wir dagegen wissen das, und wir beten für ihn, dass auch er das erkennt
und zu sich kommt.«
Und schließlich
stellte sich auch den Eltern die Frage, warum Gott dieses Verbrechen zugelassen
hatte. Klar und deutlich sagt die Mutter: Nicht Gott ist dafür verantwortlich,
sondern jeder Mensch »trägt die Verantwortung für sein Leben und für seine
Entscheidungen selbst.«. Und sie fährt fort. »Keine bohrende Frage nach dem
Warum und keine Antwort darauf kann uns letztlich über Mircos Verlust hinweghelfen.
Wir haben immer nur die Gegenwart, den Moment, das Jetzt, das wir gestalten
können. Und das wollen wir nicht in Trauer und Hass leben, auch nicht ständig
rückwärtsgewandt, sondern jetzt, in diesem Augenblick das Leben feiern mit all dem
Guten, dass wir noch haben – und das ist viel. Das Gute macht das Leben
lebenswert – auch wenn der Schmerz über Mirco immer bleiben wird.« Und
schließlich sagt sie: »Ich lasse zu, dass ich das, was passiert ist, einfach
annehme. Ich will in tiefster Überzeugung sagen können: Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden. Der Gedanke, dass es Mirco bei Gott besser geht
als je zuvor … gibt uns mehr Trost als man in Worte fassen kann. Und natürlich
die Aussicht, dass wir ihn dort wieder sehen werden.«
Nachdem die
Schlitters zu einem Gespräch bei Beckmann im Fernsehen waren, haben viele
Zuschauer sie wissen lassen, dass sie ermutigt worden sind von ihrem Willen,
trotz dieser schrecklichen Tat weiter positiv zu denken, ermutigt vom
Bestreben, ihr Leben weiterhin in die Hand zu nehmen ohne in Depression zu
versinken, ermutigt von ihrer Überzeugung, auf Rachegedanken zu verzichten.
Reinhard Schlitter sagt dazu: »Wenn diese Menschen im Fernsehen genau zugehört
haben, haben sie mitbekommen, dass wir das nicht aus eigener Kraft zu angepackt
haben. Es ist die Kraft unseres Gottes, die das möglich macht. In der Bibel
wird uns zugesagt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.”
Ja, liebe Freunde,
der Glaube trägt. Viele hier können das aus eigener Erfahrung bestätigen. Aber
wenn eine große Katastrophe eintritt, geraten wir doch ins Wanken. Da ist es
dann gut, wenn wir uns erinnern, wie andere Menschen in einer ähnlichen
Situation reagiert haben, wie sie gekämpft, gebetet und geglaubt haben so, wie
es in einem alten Lied heißt: „Wenn alles
bricht, Gott verlässt uns nicht, größer als der Helfer ist die Not ja nicht.”
Amen
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