Liebe Freunde,
ich weiß den Namen des Mädchens nicht mehr, das etwas ungelenk an
unserer Reisegruppe vorbeiging, mit einem zu schmächtigen Körper für den normal
ausgebildeten Kopf. Aber ich erinnere mich noch genau, wie sie uns angelächelt
hat. Und mir schien, als ob es das selbstgewisse Lächeln einer Siegerin ist.
Nennen wir sie Latifa, zu Deutsch: die Anmutige.
Das war vor ein paar Wochen im palästinensichen Dorf Beit Jala bei
Bethlehem. Damals war ich mit einer Reisegruppe unserer Gemeinde in Israel und
Palästina unterwegs.
Wir haben viele biblische Stätten aufgesucht am See Genezareth, in
Jerusalem und eben auch in Bethlehem. Der See, die Städte und die Landschaft
mit ihren Bergen sind immer noch da, wo sie zur Zeit Jesu waren. Aber wo genau
Jesus was getan hat, lässt sich heute nicht mehr sagen. Und deshalb hat man
sich schon bald Orte für die verschiedenen Geschichten gesucht, um einen
Anhaltspunkt dafür zu haben, was die Bibel berichtet. Alles in allem war es
eine beeindruckende und darum unvergessliche Reise in einer harmonischen
Gruppe.
Aber, wie gesagt, wir haben nicht nur biblische Sehenswürdigkeiten
besucht, sondern auch den Ort, an dem uns Latifa begegnet ist, das Mädchen mit
dem anmutigen Lächeln. Wie alt sie wohl war? Acht Jahre oder zehn Jahre? Schwer
zu sagen. Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde Latifa vom Personal in
Lifegate mit stürmischem Applaus gefeiert, als sie ihre ersten Schritte ohne
Geh-Hilfen gemacht hat, die ersten Schritte in ihrem Leben, zum ersten Mal aufrecht
auf ihren Beinen.
Unter den Applaudierenden war auch Burghard Schunkert. Er hat das
Zentrum 1991 gegründet und leitet diese Rehabilitationseinrichtung bis heute. Wir
haben ihn Mitte Juni getroffen. Er hat uns durch das Haus geführt und von Lifegate
erzählt, das von vielen Spendern aus Deutschland unterstützt wird. Im Internet heißt
es dazu:
Kinder und Jugendliche mit körperlicher
und / oder geistiger Behinderung leben in den Palästinensergebieten am Rande
der Gesellschaft. Fördermaßnahmen und Bildungsprogramme von öffentlicher Seite,
die ihnen eine Chance für ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, sind so gut
wie nicht vorhanden. Ein gesetzliches Sozialversicherungssystem fehlt ebenso
wie eine spezielle finanzielle Unterstützung für Menschen mit Behinderung.
Mit einem Team von
palästinensischen und deutschen Fachkräften stellt sich Lifegate dieser
Herausforderung. Unsere Arbeit beruht auf unserer Hoffnung und Liebe zu
allen Menschen, die im christlichen Glauben wurzelt und in unsere Arbeit
einfließt. Menschen mit Behinderung werden bei Lifegate das von vielen Spendern
aus Deutschland unterstützt wird an- und aufgenommen. Wir helfen ihnen, ein
gesundes Selbstwertgefühl und Vertrauen aufzubauen – Schlüssel zur Motivation
für unser Lernprogramm und ihr ganzes Leben.
Lifegate heißt auf Deutsch „Tor ins Leben“. Dieses Tor hat sich auch
für die kleine Latifa aufgetan, die jetzt aus eigener Kraft und auf eigenen
Beinen durch dieses Tor in ein selbstbestimmtes Leben gehen kann. Dazu haben
Mitarbeiter von Lifegate das Mädchen jahrelang behandelt und trainiert, haben
die Familienmitglieder miteinbezogen und sie immer wieder motiviert, dem Kind
eine Chance zu geben. Sie haben die Hoffnung für Latifa nicht aufgegeben und
auch in Zusammenarbeit mit israelischen Ärzten alles versucht, um ihm zu
helfen. Sie haben Spenden gesammelt und ständig die Behandlungsmethoden verbessert.
Und sie haben geglaubt an Latifa, an den Erfolg ihrer eigenen Arbeit, aber
zuerst und vor allem an Gott.
Dort, wo einst die Krippe gestanden hat und Jesus auf die Welt gekommen
ist, dort leben, arbeiten und glauben heute Menschen in seinem Geist, im Geist der
Liebe und der Hoffnung.
Als ich Latifa und ihre Geschichte kennenlernte, musste ich
unwillkürlich an die Begebenheit aus dem Lukasevangelium denken. Da heißt es: »Eine Frau hörte Jesus
zu. Seit achtzehn Jahren war sie verkrümmt und konnte sich nicht mehr
aufrichten. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich: „Du bist von deinem
Leiden erlöst!“ Er legte seine Hände auf sie. Sofort richtete sie sich auf
und dankte Gott von ganzem Herzen.«
Das war vor 2000 Jahren. Und auch heute werden
immer noch Menschen in seinem Namen aufgerichtet sowie die kleine Latifa und
wie viele andere, denen geholfen wird. Wir sehen darin kein Wunder mehr,
sondern führen das auf die Kunst der Medizin zurück. Und das stimmt ja auch. Aber,
so frage ich mich, heilt nicht Gott gerade auch durch die Medizin, durch Ärzte
und das Pflegepersonal? Sind sie nicht allesamt seine Mittel, mit denen er
Gutes tut? Und ist das nicht auch ein Wunder, dass vor mehr als 25 Jahren ein
junger Christ aus Deutschland nach Bethlehem kommt und angesichts der
behinderten Kinder dort seine Bestimmung entdeckt, ihnen aus seinem Glauben
heraus zu helfen? Und was mich besonders beeindruckt und freut, er hilft nicht
nur den Christen unter den Palästinensern, sondern genauso den muslimischen
Kindern und ihren Angehörigen. Er tut das im Geiste Jesu, der sich auch über
die Grenzen hinweggesetzt hat, die Menschen willkürlich gezogen haben.
Liebe Freunde, ich bin inzwischen lange genug
auf der Welt, um zu wissen, dass auch viele, die äußerlich aufrecht gehen,
innerlich verkrümmt sind. Da ist der smarte, braun gebrannte Typ in seinem
Cabrio-Sportwagen, den immense Schulden drücken. Da ist die Mutter, auf der die
Sorgen um ihre 17-jährige Tochter lasten, die Drogen nimmt. Da ist die Frau,
die ahnt, dass ihr Mann fremdgeht und fürchtet, dass die Ehe zerbricht. Da ist
der Familienvater, der in seiner Firma nur noch Druck hat und nicht mehr
abschalten kann, wenn er zu Hause ist. Da hat jemand in der Familie eine
Krebsdiagnose bekommen und ist am Boden zerstört.
Das alles kann Menschen seelisch verkrümmen und
beugen, kann ihnen die Freude nehmen und das Leben vergällen. Und manchmal ist
es auch eigene Schuld, die einen belastet und ein schlechtes Gewissen, das
einen niederdrückt.
Doch ich kann zu allen diesen Menschen nicht
einfach sagen: „Du musst halt glauben, dann wird es dir schon wieder gut gehen.“
Auch die Mitarbeiter von Lifegate haben das nicht zu Latifa gesagt. Aber sie
haben selber geglaubt, an dieses Mädchen und an Gott. Und haben sich seiner
angenommen und mit ihm jahrelang gearbeitet, bis das Kind eines Tages auf
eigenen Füßen stand und aufrecht gehen konnte.
Aber was ist mit den Menschen, von denen ich
gerade gesprochen habe, die äußerlich aufrecht gehen, innerlich aber verkümmert
und verkrümmt sind? Ich meine, auch sie brauchen jemanden, an dem sie sich
aufrichten können, der an sie glaubt und bei ihnen aushält, der sie nicht
aufgibt und nicht links liegen lässt, sondern ihnen immer wieder Mut macht und
für sie und vielleicht auch mit ihnen betet. Gott sei Dank kenne ich nicht
wenige in unseren Dörfern, die das auf bewundernswerte Weise tun.
Als wir dann in Jerusalem waren, haben wir auch
die Anlage von Betesda besucht, eine große Zisterne, von deren Wasser man sich
zur Zeit Jesu Heilung erhofft hatte. Die Bibel erzählt von einem Gelähmten, der
schon 38 Jahre am Beckenrand lag und praktisch die Hoffnung aufgegeben hatte,
jemals noch geheilt zu werden. Er hatte auch niemanden, der ihm in das Heilbad
hinein geholfen hätte. Als Jesus ihn sieht, fragt er ihn: „Willst du gesund
werden?“ Eine komische Frage. Ist das nicht selbstverständlich? Nein, Jesus
will aus dem Mund des Kranken hören, was dieser tatsächlich will, ob er aus
seiner Krankengeschichte wirklich aussteigen will oder ob er sich damit
abgefunden und darin eingerichtet hat. Da jammert der Kranke: „Ich hab doch
niemanden, der mir hilft.“ Und Jesus sagt: „Los, steh auf, steh einfach auf,
nimm die Matte, auf der du liegst, roll sie zusammen und geh!“ Das tat der
Mann. Und er wusste nicht einmal, wer es war, der ihm geholfen hatte.
Diese Geschichte sagt mir: „Wenn du scheiterst,
wenn du am Boden liegst aus welchem Grund auch immer, bleibt nicht liegen. Wenn
du niedergeschlagen bist, richte dich in diesem Gefühl nicht ein. Wenn du
seelisch leidest, nimm das nicht als ein unabänderliches Schicksal hin. Sondern
steh auf! Steh auf im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Stell dich aufrecht
hin. Schaue auf zu Gott und sage ihm: ‚Ich verlasse mich darauf, dass du mir
hilfst. Du weißt ja, was du zu tun hast. Und ich weiß, was ich zu tun habe. Ich
werde alles daran setzen, wieder hochzukommen. Ich werde darum kämpfen, dass
sich meine katastrophale Lage wieder ändert. Ich werde und will mit dir
zusammen kämpfen und mit dir zusammen siegen. Auch wenn es dauert. Ich werde
und will mich nicht aufgeben. Es wird auch für mich deine Sonne wieder aufgehen
und ein neuer Tag kommen, den du mir schenkst und an dem ich mich freuen kann‘.“
Liebe Freunde, Gott hat uns nicht dazu
geschaffen, dass wir gebeugt durchs Leben gehen. Ich weiß, das sagt sich
leicht. Aber trotzdem, als Menschen die ihm gehören und ihm vertrauen, können
wir den aufrechten Gang wagen. Und auch wenn uns Schuld oder ein schlechtes
Gewissen beugen, so vergibt er uns, damit wir ihn wieder mit einem freien
Herzen loben können.
Die verkrümmte Frau, der gelähmte Mann vom
Teich Betesda, die kleine Latifa, die jahrelang auf dem Fußboden leben musste,
weil sie ihre Beine nicht gebrauchen konnte - sie alle sind ein Beispiel dafür,
dass Gott Menschen aufrichtet sei es durch Jesus Christus oder durch andere
Menschen, die in seinem Geist handeln.
Das habe ich in Lifegate erlebt. Dort gehen kranke Kinder durch ein Tor gebaut aus Glauben und Nächstenliebe ins Leben. Das macht mir Mut, selbst immer wieder
aufzustehen und den nächsten Schritt zu wagen. Amen
Hans Löhr
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