Predigt: Elfriede Bezold-Löhr, Pfarrerin
Sehnsucht nach Reformation
Katholische Christen
wünschen sie sich ganz besonders – die Reformation. Nicht alle, aber ein sehr,
sehr großer Teil von ihnen. Sie wünschen sich ein neues Nachdenken, den
Abschied von manchem Dogma. Das ist überdeutlich geworden, als Papst Franziskus
Anfang Oktober 2014 Bischöfe und Kardinäle nach Rom gebeten hat. Es ging um
‚Familie‘ und ‚Sexualität‘ und den Umgang mit wiederverheirateten Männern und
Frauen. Da wünschen sich Millionen von Christen Reformen, sehnen sich nach tief
gehenden Reformen. Nach einer richtiggehenden Reformation.
Evangelische Christen
wünschen sie sich auch – eine zweite Reformation. Diejenigen unter uns, die
leiden an unseren leeren Kirchen am Sonntag früh, in denen sich fünfzehn oder
zwanzig Menschen in Räumen verlieren, die für Fünfhundert gebaut worden sind. Diejenigen,
die das Gefühl haben, dass ihre Kirchensteuer eher in teure Baupojekte fließt
als in die Kirchengemeinden für die Kinderangebote. Diejenigen, denen der
lautlose Austritt von Hunderten von Evangelischen im Jahr weh tut, von denen
manche sagen: „Ich hab‘ in dieser Kirche keine Heimat mehr. Ich verstehe so
wenig von dem, was da gesagt wird. Und ich habe das Gefühl, dass das alles an
meinem Leben und meinen Alltagsthemen voll vorbei geht.“
‚Sunday Assembly‘
Dabei sehnen sich noch
immer viele nach guter Gemeinschaft und nach Orientierung. Sogar am Sonntag
früh…. Ich habe verblüfft in der aktuellen Wochenend-Ausgabe der SZ über eine
Bewegung in Deutschland gelesen, die ganz jung ist. Es ist die ‚Sunday
Assembly‘. Da treffen sich in deutschen Großstädten am Sonntag Vormittag Leute
allen Alters – auch ihre Kinder sind dabei.
Beispiel Hamburg-Altona:
Die gemeinsame Zeit beginnt mit Liedern. Die Texte sind mit Beamer auf die Großleinwand
projiziert. ‚Immagine‘ von John Lennon. ‘Say you, say me‘ von Lionel Richie. Die
Leute stehen lose im Raum, singen und swingen mit. Dann leuchtet das Motto von
‘Sunday Assembly’ auf: “Lebe besser, helfe oft, staune mehr.” In dem kleinen
Vortrag, der sich anschließt, geht es um ‚Achtsamkeit‘. Dazwischen stille
Momente, emotionale Lieder, aufmerksames Zuhören. Dann wandert eine Schale
durch die Reihen der Besucher: Bonbons mit kleinen Fähnchen werden ausgeteilt.
Darauf stehen Fragen. Zu diesen Fragen soll man mit den Nachbarn in ein kurzes
Gespräch kommen. Dann noch ein Lied. Der Hinweis auf das Sparschwein am
Ausgang. Kein Segen. Stattdessen Kuchen und Tee.
Zwei britische Komiker
haben 2013 in London ein erstes Mal eine solche Veranstaltung abgehalten. Eine
ungezwungene Sonntags-Zusammenkunft, bei der Nicht-Gläubige oder
Irgendwie-Gläubige gemeinsam singen und andächtig sein können. In diesem Herbst,
ein Jahr später, starten sechsunddreißig Städte in acht Ländern solche
Assemblys. Dieses Angebot trifft das Bedürfnis der Menschen nach Orientierung
und Gemeinschaft. Zugleich sind die Treffen frei von Aggressivität und Doktrin.
Jeder kann dort denken, was er will und sagen, was er will. Niemand wertet.
Alle sind frei, ihre
Lebensphilosophie, ihren Glauben auszudrücken,
zu diskutieren, die eine oder andere Ansicht vielleicht zu reformieren.
Das prominente Vorbild im Reformieren
Ein Meister im
Reformieren ist bis heute Martin Luther. Vorgestern, am Freitag, hätte er
eigentlich das Gesprächsthema sein
sollen.
31. Oktober.
Reformationstag. 1517, vor fast fünfhundert Jahren, hat Martin Luther angeblich
am 31.Oktober 95 Kernsätze, sogenannte ‚Thesen‘, an die Kirchentür der
Schlosskirche von Wittenberg genagelt. Darin hat er den Ablass zur Diskussion gestellt. Die Tradition, dass sich die Leute
seiner Zeit in der Kirche gegen Geld frei kaufen konnten von Schuld. Nicht nur
sich selber, sondern auch ihre Eltern, ihre Omas und Opas, auch die
Urgroßeltern.
Martin Luther hat mit
seinem ersten Diskussionsaufruf das Ende des Mittelalters eingeläutet. Tausend
Jahre kirchlicher Lehre, kirchlicher Leitung, tausend Jahre der kirchlichen
Macht- und Prachtentfaltung stehen mit einem Mal auf dem Prüfstand. Im Herbst
1517 hat wohl noch niemand geahnt, welchen Flächenbrand Martin Luther mit seinem lauten Nachdenken über unseren
christlichen Glauben auslösten sollte. Wäre er still geblieben, wenn er es
geahnt hätte? Ich glaube nicht. Denn Martin Luther wollte Glaubens-Wahrheiten herausarbeiten, wie er sie in der Bibel
gefunden hatte.
Gedanken über die Freiheit in der Bibel
Eine dieser
Schlüsselstellen für Martin Luther handelt von der Freiheit. Wir lesen sie im Neuen Testament in einem Brief. Paulus
hat ihn geschrieben, ein leidenschaftlicher Missionar, der vom Judentum zum christlichen
Glauben übergetreten ist.
Im Brief an eine ziemlich
junge Christengemeinde in Galatien (Landstrich in der heutigen Türkei) schreibt
Paulus Folgendes:
„Christus hat uns befreit, damit wir auch in Freiheit leben!
Zeigt also Rückgrat und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft
auflegen! Ich muss es euch wohl noch einmal ganz deutlich sagen: Wenn ihr euch
beschneiden lasst, also den Weg des Gesetzes geht, dann ist das, was Christus
für euch getan hat, nutzlos. Begreift doch: Wenn ein Mensch sich für diesen Weg
entscheidet, dann muss er ihn auch mit allen Konsequenzen gehen. Er muss alle
Forderungen des Gesetzes erfüllen, denn schließlich möchte er sich ja durch
seine eigene Leistung die Anerkennung Gottes verdienen. Damit hat er jedoch
seine Verbindung mit Christus aufgegeben und ist aus der unverdienten Gnade
Gottes buchstäblich herausgefallen. Durch Jesus aber haben wir einen anderen
Zugang zu Gott: Durch die Zusagen, dass sein Heiliger Geist in uns lebt, und
durch unser Vertrauen auf Jesus dürfen wir in der Hoffnung leben, dass wir für
alle Zeiten von Gott angenommen sind. Denn wenn wir zu Jesus gehören, ist es
völlig gleichgültig, ob einer durch die Beschneidung den Weg des Judentums
gehen will oder nicht. Es zählt allein der Glaube, der sich dann auch in Taten
der Liebe zeigt. (Gal.5, 1 – 6)
Frei sein von Gesetzlichkeit
Was macht mich gut in den Augen Gottes? Martin Luther
wollte mit Gott in einer liebevollen Verbindung stehen. Er wollte den dauernden
Zugang zu ihm. Und Martin hat sich dafür so lange geschunden, bis er erkannt
hat: „Was ich da tue, ist sinnlos. Ich quäle mich ab für eine Sache, die längst
passiert ist. Meine gestörte Verbindung zu Gott ist längst repariert. Das Netz
ist da. Die Verbindung von mir zu ihm steht. Durch Jesus Christus, seinen Sohn.
Ich muss das nur glauben. Voll Vertrauen sagen: „Ok, Gott, ich habe begriffen.
Ich erreiche dich immer und überall. Du bist für mich da. Dafür muss ich nichts
vorher tun.‘ Ich bin dein freies Kind.“
Die Leute, gegen die
Paulus damals in seinem Brief gewettert hat, sahen das anders. Sie haben den
Christen in Galatien eingehämmert: „Stopp! So einfach geht das mit dem
Christsein nicht! Ihr solltet als Christen auch die jüdischen Gesetze, die Gott
uns im Lauf der Jahrhunderte gegeben hat, möglichst genau befolgen. Dazu gehört
auch die Beschneidung. Tut uns leid -
nur wer beschnitten ist als männlicher Jude, kommt bei Gott an.“
Dazu sagt Paulus: „Leute,
es zwei Wege für euch zu Gott. Der erste ist der Weg der Gesetze. Dieser Weg
bedeutet: Ihr müsst alles, aber auch wirklich die kleinste Vorschrift, ganz
exakt einhalten. Dann könnt ihr hoffen, dass ihr vor Gott Gnade findet. Der
zweite Weg ist der Weg über Jesus Christus. Da könnt ihr alle diese
Vorschriften vergessen. Was ihr braucht, ist Vertrauen. Vertrauen darauf, dass ihr Gott so wichtig seid, dass er
euch den weg zu sich selber schon frei gemacht hat.“
Frei werden zum Einsatz für andere
Martin Luther saugt auf,
was Paulus da schreibt. Und merkt: „Die Freiheit, die Gott mir da schenkt, macht
etwas mit mir. Ich vertraue darauf, dass er mich liebt – das verändert mein
Inneres. Mein Wesen. Meine Persönlichkeit. Ich kann anfangen, von mir
wegzuschauen. Ich atme durch und entspanne mich. Die Angst, die ich so lang in
mir gehabt hab, wird immer weniger. Plötzlich wird mein Blick frei für die
Leute um mich herum. Ich spüre es, wenn jemand Probleme hat und hab‘ den
Wunsch, ihm zu helfen. Ich sehe es, wenn jemand extrem gut drauf ist und freu
mich mit ihm. Ich wünsche mir, dass von der Liebe, die Gott mir entgegenbringt,
etwas durchscheint für andere. Ich will von der Wärme, mit der Gott mich in
seiner Nähe hält, anderen etwas abgeben. Weil ich ‚freies Kind‘ Gottes bin,
kann ich auf einmal ‚freiwillig‘ für andere da sein.“
Neue Freiheit in unseren Gemeinden
Wie sehen unsere
Gemeinden aus, wenn wir uns unsere Freiheit von Gott heute neu zusprechen
lassen? Wenn uns klar wird, dass weder kirchliche Traditionen noch kirchliche
Autoritäten per se unumstößlich sind? Wir sind Gottes freie Kinder. Frei von
Gesetzeszwängen, allein durch das gebunden, was wir von Jesus Christus über
Gott lernen. Da ist viel Raum für Neues, wie ich meine. Wir können nicht mutig
genug sein im Suchen und Riskieren von Neuem. Reformation? Ja bitte. Immer wieder. Immer neu. Das gilt für mich als Einzelne und es gilt für uns als
Christengemeinschaft. So lange wir leben und Gott mit uns seine Geschichte
schreibt. Wir sind so frei! Denn Gott hat uns frei gemacht. Amen.
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