Sonntag, 15. November 2015

Wofür? – Sag du es! hl

Predigt von Hans Löhr am Volkstrauertag 2015

Ihr, die ihr heute am Volkstrauertag die Gottesdienste und die Gedenkfeiern besucht, tut ein wichtiges Werk: Ihr haltet die Erinnerung an die Schrecken des Krieges wach. Ihr gedenkt der zahllosen Opfer, die die beiden Weltkriege gekostet haben. Opfer waren die Soldaten, die gefallen, vermisst, in Gefangenschaft oder bei Zwangsarbeit ums Leben gekommen sind. Die an Leib und Seele verwundet waren und oft Jahre später an den Folgen gestorben sind.
Unter diesen Opfern waren diejenigen aus unseren Dörfern, deren Namen auf der Gedenktafel stehen: es waren eure Väter und Großväter, Brüder und Cousins, Onkel und Nachbarn.
Opfer waren aber auch die Frauen und Kinder, die im Bombenkrieg ihr Leben oder ihre Gesundheit lassen mussten, oder die umgekommen sind als der Krieg Mitte April 1945 in unsere Nachbardörfer kam, nach Großenried zum Beispiel und vor allem nach Merkendorf. Opfer waren die Millionen von Menschen, die von der nationalsozialistischen Rassendiktatur vernichtet wurden, darunter 1,2 Millionen Kinder.

An sie alle erinnern wir heute, an das namenlose Leid, an die Grausamkeiten, an die grenzenlose Zerstörung von Leben. Wir tun das zu dem einen Zweck - nicht aus Rache, nicht um andere zu beschuldigen, sondern einzig und allein, damit so etwas nicht mehr geschieht. Nie wieder, jedenfalls da nicht, wo wir verantwortlich sind.

Wir wissen oder spüren es wenigstens, dass der Satz stimmt: »Wer sich des Vergangenen nicht erinnert, ist dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben.« Deshalb, und nur deshalb wäre es grundfalsch, würden wir den Stimmen Gehör schenken, die es auch unter uns gibt und die sagen: Lasst doch das Vergangene auf sich beruhen, rührt nicht mehr daran, einmal muss doch Schluss sein. Nein, das dürfen wir nicht. Heute geht es nicht mehr darum, nach Schuldigen zu suchen. Denn die meisten, die heute leben, haben keine Schuld für das, was damals geschehen ist. Wir alle aber haben Verantwortung dafür, was daraus wird.
Das ist und bleibt unsere Verantwortung und ihr wollen wir uns stellen, so oft wir den Volkstrauertag begehen.

Verantwortung? Wem gegenüber haben wir denn Verantwortung? Die Antwort ist leicht: Gegenüber unseren Kindern und Enkeln, damit sie einmal nicht uns anklagen und sagen müssen: "Ihr habt es doch gewusst, was Krieg bedeutet. Warum habt ihr nichts dagegen getan?" Nein, soweit soll es nicht mehr kommen. Wir waren in Deutschland zu lange ein Volk von Kriegsknechten - jetzt wollen wir dem Frieden dienen wie und wo es nur geht. Und dazu gehört auch, dass wir denen Zuflucht gewähren, die vor Krieg und Terror zu uns geflohen sind. Und auch das gehört dazu, dass wir besonnen bleiben angesichts der Terroranschläge in Frankreich, uns weder in Angst und Schrecken versetzen lassen noch blindlings nach Vergeltung schreien. 

Aber wir sind nicht nur unseren Nachkommen gegenüber verantwortlich dafür, dass auch sie in Frieden aufwachsen und leben können, wie es den meisten von uns vergönnt war. In erster Linie haben wir Verantwortung gegenüber Gott und das seit jeher. Seitdem zum ersten Mal ein Mann seinen Bruder erschlagen hat, seitdem verlangt Gott Antwort auf die Frage: "Kain, wo ist dein Bruder Abel? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde."

Abel ist tot. Wir alle sind Nachkommen Kains, des Brudermörders. Wo immer ein Mensch den anderen tötet, tötet er seinen Bruder, tötet er seine Schwester. Vor 70 Jahren in Europa und in Fernost. Heute in Syrien, im Jemen, in Libyen, in Nigeria, in der Ukraine, in Paris ….
Wenn wir von Feinden reden, dann sind es unsere Menschenbrüder, die wir zu Feinden erklären. Krieg, ausnahmslos jeder Krieg, ist nichts anderes als Brudermord, auch und gerade der nicht enden wollende Krieg zwischen Israelis und Palästinensern.

Aber auch wenn wir die Nachkommen Kains, des Brudermörders sind, sind wir doch nicht dazu verdammt, so zu sein wie er. Wir haben die Wahl zwischen Tod und Leben, zwischen Krieg und Frieden. Gott selbst gibt uns die Freiheit zu wählen, da er sagt: »Den Himmel und die Erde rufe ich als Zeugen euch gegenüber an. Ich habe euch heute das Leben und den Tod vorgelegt, den Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst und deine Nachkommen auch leben können. Liebe deinen Gott, höre auf seine Stimme und hänge an ihm; denn er ist dein Leben.« (5. Mose 30,19) So steht es in der heiligen Schrift, im fünften Buch Mose.

Dazu wirst du und ich, werden wir, die wir heute zusammengekommen sind, aufgefordert: "Liebe deinen Gott, höre auf ihn, denn er ist dein Leben!" Die Antwort muss jeder selbst geben. Die Antwort auf die Frage: wen oder was liebe ich? Worauf höre ich? Woran hänge ich? Wähle ich bei dem, was mir wichtig ist, Segen oder Fluch? Treffe ich die richtigen Entscheidungen? Von der Antwort hängt ab, wie es mir, meinen Kindern und Enkeln geht. Und letztlich hängt von dieser Antwort auch ab, ob der Krieg zu uns zurück kommt oder ob der Friede bleibt.

Wir haben heute und auch künftig am Volkstrauertag noch eine andere Antwort zu geben. Wir müssen jetzt und künftig die Frage beantworten: Wofür sind die vielen Männer, Frauen und Kinder in den Kriegen Europas und weltweit gestorben? Die deutschen Soldaten - wofür? Für Führer, Volk und Vaterland? Oder für eine Verbrecherclique? Wofür sind sie in Stalingrad verblutet, mit ihren Kriegsschiffen untergegangen, im Wüstensand Nordafrikas verdurstet, in sibirischen Zwangsarbeiterlagern verhungert - wofür? Und die Frauen und Kinder, die in den Lagern getötet wurden oder bei Flucht und Vertreibung umgekommen sind - wofür? All die zahllosen Toten, sie fragen nicht die Verantwortlichen von damals, sie fragen uns heute: "Sagt ihr es, wofür sind wir gestorben?"

Ein vielstimmiger, schauerlicher Chor ruft uns aus der Vergangenheit, aus den Schlachtfeldern, aus den Vernichtungslagern, aus zerbombten Städten, aus Soldatenfriedhöfen. Er ruft ein Wort: »Wofür? Sagt es uns, die ihr heute unser gedenkt! Erlöst uns von der Qual, dass vielleicht alles umsonst gewesen ist, all das Leiden und Sterben.«

Und - wissen wir es? Weißt du es? Kannst du antworten?

In einem Gedicht heißt es:
»Die jungen toten Soldaten sagen: "Unser Tod ist nicht unser. Er ist euer;
unser Tod wird bedeuten, was ihr daraus macht." Sie sagen: "Ob unser Leben und Tod für Frieden war und für neue Hoffnung, oder für nichts,
können wir nicht sagen, denn ihr müsst es sagen."
Sie sagen: "Wir lassen euch unseren Tod. Gebt ihr ihm einen Sinn!"«

Was für eine Verantwortung wird uns da von den Toten aufgebürdet, derer wir heute gedenken! Wir müssen die Verantwortung tragen, dürfen uns ihr nicht entziehen. Wir müssen durch die Art und Weise, wie wir denken, reden und handeln, wie wir uns des Vergangenen erinnern, dafür sorgen, dass es nicht noch einmal geschieht. Wir müssen unter allen Umständen - unter allen Umständen - für den Frieden eintreten, damit es auch für unsere Nachkommen eine Hoffnung gibt. Dann können wir den Toten, die uns so eindringliche fragen, sagen: "Nein, euer Opfer, euer Leiden und Sterben war nicht umsonst. Wir haben daraus gelernt. Denn auf die Frage, die ihr uns stellt: Wofür? Und auf die Frage, die Gott uns stellt: "Was wählt ihr? Leben oder Tod, Fluch oder Segen? Auf diese Fragen antworten wir: Wir wählen das Leben, wir wählen den Segen, wir wählen den Frieden - damit ihr, die Opfer von Krieg, Vertreibung und Gewalt nicht umsonst gestorben seid, und damit wir und unsere Kinder eine friedliche Zukunft haben.

Amen

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