Predigt von
Hans Löhr am Volkstrauertag 2015
Ihr, die ihr
heute am Volkstrauertag die Gottesdienste und die Gedenkfeiern besucht, tut ein
wichtiges Werk: Ihr haltet die Erinnerung an die Schrecken des Krieges wach.
Ihr gedenkt der zahllosen Opfer, die die beiden Weltkriege gekostet haben.
Opfer waren die Soldaten, die gefallen, vermisst, in Gefangenschaft oder bei
Zwangsarbeit ums Leben gekommen sind. Die an Leib und Seele verwundet waren und
oft Jahre später an den Folgen gestorben sind.
Unter diesen
Opfern waren diejenigen aus unseren Dörfern, deren Namen auf der
Gedenktafel stehen: es waren eure Väter und Großväter, Brüder
und Cousins, Onkel und Nachbarn.
Opfer waren
aber auch die Frauen und Kinder, die im Bombenkrieg ihr Leben oder ihre Gesundheit
lassen mussten, oder die umgekommen sind als der Krieg Mitte April 1945 in
unsere Nachbardörfer kam, nach Großenried zum Beispiel und vor allem nach
Merkendorf. Opfer waren die Millionen von Menschen, die von der
nationalsozialistischen Rassendiktatur vernichtet wurden, darunter 1,2
Millionen Kinder.
An sie alle
erinnern wir heute, an das namenlose Leid, an die Grausamkeiten, an die
grenzenlose Zerstörung von Leben. Wir tun das zu dem einen Zweck - nicht aus
Rache, nicht um andere zu beschuldigen, sondern einzig und allein, damit so
etwas nicht mehr geschieht. Nie wieder, jedenfalls da nicht, wo wir
verantwortlich sind.
Wir wissen
oder spüren es wenigstens, dass der Satz stimmt: »Wer sich des Vergangenen nicht erinnert, ist dazu verurteilt, es noch
einmal zu erleben.« Deshalb, und nur deshalb wäre es grundfalsch, würden
wir den Stimmen Gehör schenken, die es auch unter uns gibt und die sagen: Lasst
doch das Vergangene auf sich beruhen, rührt nicht mehr daran, einmal muss doch
Schluss sein. Nein, das dürfen wir nicht. Heute geht es nicht mehr darum, nach
Schuldigen zu suchen. Denn die meisten, die heute leben, haben keine Schuld für
das, was damals geschehen ist. Wir alle aber haben Verantwortung dafür, was
daraus wird.
Das ist und
bleibt unsere Verantwortung und ihr wollen wir uns stellen, so oft wir den
Volkstrauertag begehen.
Verantwortung?
Wem gegenüber haben wir denn Verantwortung? Die Antwort ist leicht: Gegenüber
unseren Kindern und Enkeln, damit sie einmal nicht uns anklagen und sagen müssen:
"Ihr habt es doch gewusst, was Krieg bedeutet. Warum habt ihr nichts
dagegen getan?" Nein, soweit soll es nicht mehr kommen. Wir waren in
Deutschland zu lange ein Volk von Kriegsknechten - jetzt wollen wir dem Frieden
dienen wie und wo es nur geht. Und dazu gehört auch, dass wir denen Zuflucht
gewähren, die vor Krieg und Terror zu uns geflohen sind. Und auch das gehört dazu, dass wir besonnen bleiben angesichts der Terroranschläge in Frankreich, uns weder in Angst und Schrecken versetzen lassen noch blindlings nach Vergeltung schreien.
Aber wir
sind nicht nur unseren Nachkommen gegenüber verantwortlich dafür, dass auch sie
in Frieden aufwachsen und leben können, wie es den meisten von uns vergönnt
war. In erster Linie haben wir Verantwortung gegenüber Gott und das seit jeher.
Seitdem zum ersten Mal ein Mann seinen Bruder erschlagen hat, seitdem verlangt
Gott Antwort auf die Frage: "Kain,
wo ist dein Bruder Abel? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir
von der Erde."
Abel ist
tot. Wir alle sind Nachkommen Kains, des Brudermörders. Wo immer ein Mensch den
anderen tötet, tötet er seinen Bruder, tötet er seine Schwester. Vor 70 Jahren
in Europa und in Fernost. Heute in Syrien, im Jemen, in Libyen, in Nigeria, in
der Ukraine, in Paris ….
Wenn wir von
Feinden reden, dann sind es unsere Menschenbrüder, die wir zu Feinden erklären.
Krieg, ausnahmslos jeder Krieg, ist nichts anderes als Brudermord, auch und
gerade der nicht enden wollende Krieg zwischen Israelis und Palästinensern.
Aber auch
wenn wir die Nachkommen Kains, des Brudermörders sind, sind wir doch nicht dazu
verdammt, so zu sein wie er. Wir haben die Wahl zwischen Tod und Leben,
zwischen Krieg und Frieden. Gott selbst gibt uns die Freiheit zu wählen, da er
sagt: »Den Himmel und die Erde rufe ich als Zeugen
euch gegenüber an. Ich habe euch heute das Leben und den Tod vorgelegt, den
Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst und deine Nachkommen auch
leben können. Liebe deinen Gott, höre auf seine Stimme und hänge an ihm; denn
er ist dein Leben.« (5. Mose 30,19) So steht es in der heiligen
Schrift, im fünften Buch Mose.
Dazu wirst
du und ich, werden wir, die wir heute zusammengekommen sind, aufgefordert:
"Liebe deinen Gott, höre auf ihn,
denn er ist dein Leben!" Die Antwort muss jeder selbst geben. Die
Antwort auf die Frage: wen oder was liebe ich? Worauf höre ich? Woran hänge
ich? Wähle ich bei dem, was mir wichtig ist, Segen oder Fluch? Treffe ich die
richtigen Entscheidungen? Von der Antwort hängt ab, wie es mir, meinen Kindern und
Enkeln geht. Und letztlich hängt von dieser Antwort auch ab, ob der Krieg zu
uns zurück kommt oder ob der Friede bleibt.
Wir haben
heute und auch künftig am Volkstrauertag noch eine andere Antwort zu geben. Wir
müssen jetzt und künftig die Frage beantworten: Wofür sind die vielen Männer,
Frauen und Kinder in den Kriegen Europas und weltweit gestorben? Die deutschen
Soldaten - wofür? Für Führer, Volk und Vaterland? Oder für eine
Verbrecherclique? Wofür sind sie in Stalingrad verblutet, mit ihren
Kriegsschiffen untergegangen, im Wüstensand Nordafrikas verdurstet, in
sibirischen Zwangsarbeiterlagern verhungert - wofür? Und die Frauen und Kinder,
die in den Lagern getötet wurden oder bei Flucht und Vertreibung umgekommen
sind - wofür? All die zahllosen Toten, sie fragen nicht die Verantwortlichen von
damals, sie fragen uns heute: "Sagt ihr
es, wofür sind wir gestorben?"
Ein
vielstimmiger, schauerlicher Chor ruft uns aus der Vergangenheit, aus den Schlachtfeldern,
aus den Vernichtungslagern, aus zerbombten Städten, aus Soldatenfriedhöfen. Er
ruft ein Wort: »Wofür? Sagt es uns, die ihr heute unser gedenkt! Erlöst uns von
der Qual, dass vielleicht alles umsonst gewesen ist, all das Leiden und
Sterben.«
Und - wissen
wir es? Weißt du es? Kannst du antworten?
In einem
Gedicht heißt es:
»Die jungen toten Soldaten sagen: "Unser Tod ist nicht unser.
Er ist euer;
unser Tod wird bedeuten, was ihr daraus macht." Sie sagen: "Ob unser Leben und Tod für Frieden war und für neue Hoffnung, oder für nichts,
unser Tod wird bedeuten, was ihr daraus macht." Sie sagen: "Ob unser Leben und Tod für Frieden war und für neue Hoffnung, oder für nichts,
können wir nicht sagen, denn ihr
müsst es sagen."
Sie sagen: "Wir lassen euch unseren Tod. Gebt ihr ihm einen Sinn!"«
Was für eine
Verantwortung wird uns da von den Toten aufgebürdet, derer wir heute gedenken!
Wir müssen die Verantwortung tragen, dürfen uns ihr nicht entziehen. Wir müssen
durch die Art und Weise, wie wir denken, reden und handeln, wie wir uns des
Vergangenen erinnern, dafür sorgen, dass es nicht noch einmal geschieht. Wir
müssen unter allen Umständen - unter allen
Umständen - für den Frieden eintreten, damit es auch für unsere Nachkommen
eine Hoffnung gibt. Dann können wir den Toten, die uns so eindringliche fragen,
sagen: "Nein, euer Opfer, euer Leiden und Sterben war nicht umsonst. Wir
haben daraus gelernt. Denn auf die Frage, die ihr uns stellt: Wofür? Und auf
die Frage, die Gott uns stellt: "Was wählt ihr? Leben oder Tod, Fluch oder
Segen? Auf diese Fragen antworten wir: Wir wählen das Leben, wir wählen den
Segen, wir wählen den Frieden - damit ihr, die Opfer von Krieg, Vertreibung und
Gewalt nicht umsonst gestorben seid, und damit wir und unsere Kinder eine
friedliche Zukunft haben.
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