Losung: Die Elenden
werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden
fröhlich sein in dem Heiligen Israels. Jesaja 29,19
Lehrtext: Die Pharisäer sprachen zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Matthäus 9,11
Lehrtext: Die Pharisäer sprachen zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Matthäus 9,11
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich stelle mir vor, am nächsten Sonntag erscheint ein Engel im
Gottesdienst mit der Botschaft: »Jesus kommt am ersten Advent in eure
Gemeinde.« Engel und Botschaft sind so glaubwürdig, dass kein Zweifel besteht.
Alle sind erstmal ziemlich erschrocken und dann fragt man sich: „Was sollen wir
bloß tun, um ihn würdig zu empfangen?“
Um darauf eine Antwort zu finden, werden noch
am selben Tag die Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher zu einer
Sondersitzung zusammengerufen. Es geht vor allem darum, wie die Kirche
geschmückt werden soll und natürlich auch das Pfarrhaus und das ganze Dorf. Und
wer darf dann überhaupt in der Kirche dabei sein? Man wird wohl mit einem
großen Andrang rechnen müssen. Soll es eine Sitzordnung geben? Sollen
Platzkarten verteilt werden und wenn ja, an wen? An den Bürgermeister oder den
Dekan oder den Regionalbischof? Den Landesbischof, den Landrat, den
Ministerpräsidenten oder gleich den Bundespräsidenten?
Und was ist mit der Presse? Soll
man sie informieren? Die Journalisten werden auf jeden Fall Wind davon
bekommen. Muss man für sie Plätze in der Kirche freihalten? Soll man nach dem
Gottesdienst eine Pressekonferenz mit Jesus veranstalten?
Alles auf Hochglanz
In den Tagen vor dem ersten Advent steigt die Spannung
ins Unermessliche. Alle Frauen vereinbaren schnell noch einen Termin beim
Friseur. Die Männer bringen ihre Anzüge in die Reinigung und kaufen sich eine
neue Krawatte. Das ganze Dorf wird geschmückt mit Blumen und Girlanden, mit
Transparenten und Fahnen. Die Wege zur Kirche werden mit einem grünen Teppich
aus geschnittenen Zweigen bestreut. Die Kirche selbst wird von den Mesnerinnen
und vielen Frauen, die freiwillig mithelfen, auf Hochglanz gebracht. Männer
machen Schönheitsreparaturen. Den Bläsern des Posaunenchors tun vor lauter Üben
schon die Lippen weh. Viele lernen schnell noch einmal den Kleinen Katechismus.
Man weiß ja nie, ob man nicht vielleicht doch Bescheid wissen muss. Im
Pfarrhaus wird für ein Menü eingekauft. Es soll Lammbraten geben, den die
Pfarrfrau kocht, mit einem teuren Rotwein, die Flasche zu 200 Euro, den der
Pfarrer besorgt. Es hätte auch eine für 500 Euro gegeben, aber so viel wollte
er dann doch nicht ausgeben.
Nur die üblichen Verdächtigen im Dorf fallen wieder mal
auf: Auch dieses Mal machen sie nicht mit und zeigen an Jesus kein Interesse.
Sie kommen ja auch sonst nicht in die Kirche. Und vermutlich wären sie da bei
ihrem zweifelhaften Lebenswandel und ihren rüden Umgangsformen auch gar nicht
so gern gesehen. Man will sich ja nicht blamieren, wenn Jesus höchstpersönlich
kommt.
Polierte Amtskreuze
Dann ist der große Tag endlich da. Nicht nur das ganze
Dorf ist auf den Beinen und die Dörfer ringsum. Tausende aus dem ganzen Land
und aus dem Ausland verstopfen die Straßen, zertrampeln die Gärten.
Journalisten aus aller Welt prügeln sich um die besten Plätze.
Selbstverständlich sind der Landesbischof und der Dekan der Einladung gefolgt
und haben vorher noch eifrig ihr Amtskreuz poliert. Ab und zu kontrollieren sie
verstohlen, ob der Zettel mit dem wohlformulierten Grußwort noch in der
richtigen Tasche steckt. Auch der Ministerpräsident und der Bundespräsident
haben sich angesagt. Für sie werden vor der ersten Bankreihe extra Stühle aufgestellt.
Der Pfarrer trägt zum Talar ein frisch gebügeltes
Beffchen. Die Kirchenvorsteher tragen schwarze Anzüge mit silbernen Krawatten
und die Kirchenvorsteherinnen dunkle Kostüme, dazu ein dezentes, nicht zu
auffälliges Make-up. Alles für Jesus.
Die Spannung erreicht den Siedepunkt. Jetzt ist es so weit. Die Glocken
läuten. Und tatsächlich, wie in der Bibel beschrieben, erscheint ein Blitz von
einem Ende der Erde zum anderen und dann ist Jesus mitten unter den Leuten vor
der Kirche. Alle verstummen. Kaum einer wagt zu atmen. Jesus geht langsam die
Straße entlang. Alles weicht ehrfürchtig vor ihm zurück. Sogar der
Personenschutz der Politiker. Er selbst hat keinen mitgebracht.
Jesus auf Abwegen
Da, was ist das? Jesus geht gar nicht in die Kirche. Er biegt in eine
Seitenstraße ein und geht geradewegs auf eines der Häuser zu, die nicht
geschmückt sind. Wo die Leute daheim geblieben sind und lieber Super-RTL
schauen. Wo die, na du weißt schon, die Typen mit den lockeren Sitten und den
leeren Schnapsflaschen vor der Wohnungstür hausen. Jesus klingelt. Man öffnet.
Er geht hinein. Alle, die ihn draußen erwartet hatten, schauen sich ratlos an.
Sie versammeln sich vor dem Haus und warten. Aber es dauert geschlagene drei
Stunden, bis er wieder herauskommt. Man sagt, er habe in dem Haus Pizza
gegessen und billigen Rotwein getrunken. Sogar einen Schnaps habe er nicht
verschmäht.
Im Pfarrhaus ist unterdessen der Lammbraten kalt
geworden. In der Kirche macht sich immer mehr Unruhe breit. Man hört, dass er
gekommen sei, aber eben nicht zum Gottesdienst, nicht zum Landesbischof und
nicht zum Bundespräsidenten, nicht zum Pfarrer und nicht zu den
Kirchenvorstehern. Allen Honoratioren aus Kirche, Wirtschaft, und Politik hat
Jesus einen Korb gegeben. Die Zettel mit den vorbereiteten Grußworten werden
enttäuscht weggesteckt. Die Fernsehkameras werden abgeschaltet. Der
Ministerpräsident drängt zum Aufbruch. Schließlich ist Wahlkampf. Niemand
versteht, was vorgefallen ist.
Da, als alle schon aufbrechen
wollen, erscheint Jesus doch noch in der Kirche. Keiner kann später sagen, wie
er hereingekommen ist.
Kein religiöses Getue!
»Friede sei mit Euch!« sagt er und »Was seid ihr so verdutzt? Kennt ihr
nicht die Bibel? Wisst ihr nicht, was im Evangelium geschrieben steht? Ich will
es euch sagen:
Als ich damals durch Palästina ging, sah ich einen
Mann, der gerade dabei war, Steuern einzutreiben. Sein Name war Matthäus. Er
war einer von jenen Typen, die im ganzen Land verhasst waren, weil sie mit den
Römern kollaborierten und das eigene Volk betrogen. Ich sagte zu ihm: „Komm,
geh mit mir.“ Und Matthäus stand auf und schloss sich mir an.
Später, als ich in seinem Haus mit ein paar meiner Jünger zu Abend aß, kamen noch
Leute, die einen üblen Ruf hatten, und setzten sich mit an den Tisch. Kaum
hatten die „feinen“ Leute erfahren, in welcher Gesellschaft ich mich befand,
regten sie sich auch schon auf und machten den Jüngern Vorhaltungen: „Könnt ihr
uns erklären, warum euer Meister sich mit einem solchen Gesindel an einen Tisch
setzt?“
Ich hab das mitbekommen und
ihnen selbst die Antwort gegeben: „Wer braucht denn nun den Arzt: der Gesunde
oder der Kranke? Fragt euch einmal, was das Gotteswort bedeutet: ‚Erbarmen
erwarte ich von euch, nicht religiöses Getue.‘ Ich, Jesus, bin gekommen, um
Menschen für Gott zu gewinnen, die weit weg von ihm sind, die Sünder und nicht
die, die sich selbst für fromm und gerecht halten.“ (Matth. 9,9-13) Wenn ihr
nur endlich aufhören würdet, über andere schlecht zu denken und schlecht zu reden,
die nicht so sind und nicht so leben wie ihr, – dann komme ich das nächste Mal
auch zu euch.«
Kaum hat er das gesagt, ist er
auch schon verschwunden. Die Festversammlung verläuft sich.
Das war geil
Pfarrer und Kirchenvorstand denken in der nächsten Sitzung über die Frage
nach, ob sich die Kirchengemeinde ebenfalls für die Leute interessieren sollte,
für die sich Gott interessiert und was das wohl für Folgen hätte. Die
Typen aber, mit denen er gegessen hatte, sagen: »Ey, das war vielleicht geil.
Hatten nie gedacht, dass Gott sich für uns interessiert und dass Jesus
persönlich zu uns kommt, ausgerechnet zu uns.«
Sie werden noch ein paar Tage respektvoll gegrüßt. Doch das legt sich
wieder und bald ist es so wie immer.
Ja, liebe Leserin, lieber Leser,
zum Glück habe ich mir das alles nur vorgestellt. Wäre es wirklich passiert,
wir müssten womöglich über unser Leben und unseren Glauben nochmal neu
nachdenken und von vorn beginnen – und die Kirche auch. (Predigt vom 27.1.2013)
Hans Löhr
Mit Spracherkennung diktiert.
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Hans Löhr / Sommersdorf 5 / 91595
Burgoberbach
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