Freitag, 16. Januar 2015

»Ich war Pfarrer aus Leidenschaft«

Abschiedsworte von Hans Löhr 
Ungekürzter Artikel für Gemeindebrief der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden Sommersdorf-Burgoberbach und Thann vom 15.1.2015

Fast 40 Jahre war ich nun im Kirchendienst als Vikar in Erlangen, als Pfarrer auf der zweiten Pfarrstelle in Röthenbach an der Pegnitz, als geschäftsführender Studentenpfarrer an der Universität München, als Leiter der Geschäftsstelle „Evangelisches Münchenprogramm“ und schließlich die letzten 13 1/2  Jahre als Pfarrer in der Pfarrei Sommersdorf-Burgoberbach und Thann.
Nun also geht mein aktiver Pfarrdienst am 28. Februar zu Ende und ab 1. März bin ich Rentner. Grund genug, auf das Berufsleben zurück zu blicken und Bilanz zu ziehen. Allerdings werde ich nicht komplett von der Bildfläche der Gemeinde verschwinden, da meine Frau nun meine halbe Stelle zusätzlich übernommen hat und sich über die eine oder andere Unterstützung freut.
Wie jeder Pfarrer und jede Pfarrerin habe ich eine Vielzahl von Menschen getauft, in der Schule unterrichtet, konfirmiert, getraut und beerdigt. Hinzu kommen zahllose Besuche und Gottesdienste an Sonntagen und bei verschiedenen Anlässen. Das Schöne an diesem Beruf ist, dass man viel mit Menschen unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen sozialen Schichten zu tun hat.
Doch dazu gehören auch schmerzliche Erlebnisse wie jene furchtbaren  Tage im August 2006, als ein Mann im Nachbardorf seine Frau, seine Mutter seine beiden Kinder und zuletzt sich selbst erstach, und ich mit meinem katholischen Kollegen die Angehörigen begleitet und die fünf Toten beerdigt habe.

Neuerungen
Meiner Frau und mir lag von Anfang an daran, die Gemeinde nicht nur zu verwalten, sondern die Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen und mit neuen Angeboten zu reagieren. Wir wollten und wollen den Niedergang der Kirche nicht achselzuckend zur Kenntnis nehmen und dabei monatlich unser festes Gehalt einstreichen, das man als Pfarrer unabhängig davon bekommt, was man leistet. Deshalb haben wir 2004 zunächst im Bereich Kindergottesdienst mit den „Sonntagskindern“ ein neues Projekt begonnen, das bis heute gut angenommen wird. Ermutigt durch diesen Erfolg haben wir gemeinsam mit den Kirchenvorständen weitere Neuerungen eingeführt allen voran den „Lichtblickgottesdienst“ für die große Zahl von Menschen, die nach wie vor Interesse am Glauben haben, aber mit den traditionellen Kirchengottesdiensten nichts mehr anfangen können.
Nach intensiven Vorüberlegungen starteten wir im Jahr 2008 diesen alternativen Gottesdienst in der Schulaula in Burgoberbach mit inzwischen 300 Besuchern aus der Region.

Unsere Zukunft: Die Kinder
Gleichzeitig wurden die Angebote für Kinder erweitert. Nun gibt es auch noch den Wichtel- und Kinderlichtblick, die Jungschar, ein Angebot für Teens und nach wie vor die Wichtelgottesdienste in der Kirche.
Die Zukunft der Gemeinde sind nun mal die Kinder. Wenn man sie bis zu ihrem 13. Lebensjahr nicht für den Glauben begeistern kann, sind sie in aller Regel für die Gemeinde und die Kirche verloren.

Traditionelle Gemeindearbeit
Nach wie vor gibt es auch das traditionelle Gottesdienstangebot in den Kirchen in Sommersdorf und in Thann. Es werden Gemeindeglieder bei Geburtstagen und im Krankenhaus besucht, auch die Seniorenarbeit und der Diakonieverein werden  fortgeführt.
Auch die Kontakte zu unseren Partnern in Tansania sind weiterhin lebendig. Seit vielen Jahren bekommen wir erfreulich viele Spenden für die Waisenkinder, die wir dort unterstützen. Wir haben diese Arbeit unseres Vorgängers, Pfarrer Hansjörg Meyer, gern fortgesetzt.
Ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit war die Öffentlichkeitsarbeit. Der Gemeindebrief wurde komplett überarbeitet und ein Internetauftritt der Pfarrei installiert.

Tägliche Glaubensimpulse
Unsere Glaubensimpulse  „Nachdenken über die Bibel“ bekommen täglich ca. 170 Interessierte über E-Mail oder, wie in Thann, in die Briefkästen. Dazu legen wir das tägliche Losungswort und den Lehrtext aus und fügen ein Gebet an. Dahinter steht das Ergebnis einer weltweiten Umfrage von Willow Creek, dass nichts das Glaubenswachstum eines Menschen so fördert wie die Beschäftigung mit der Bibel. Weltweit werden unsere Losungsauslegungen auch im Internet-Blog gelesen. Die inzwischen 1250 Auslegungen wurden seit Mai 2010 bereits 127.000 Mal aufgerufen: www.glaubenswachstum.blogspot.de

Die Ehrenamtlichen liegen uns besonders am Herzen. Ohne sie könnten wir den größten Teil unserer Arbeit nicht leisten. Als Dankeschön bekommen die Mitarbeitenden in Leitungspositionen die besten Fortbildungsangebote, die wir in Deutschland finden können.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich all denen danken, die mich in meiner Arbeit unterstützt haben: den Sekretärinnen und Kollegen, Mesnerinnen und Organisten, den Mitarbeitenden im Kirchengemeindeamt, den Ehrenamtlichen und meiner Frau.

Gemeindemotto
Natürlich freuen wir uns über den verhältnismäßig großen Zuspruch für unsere Arbeit. Aber auch wir leiden nach wie vor unter einem Desinteresse bei der Mehrheit unserer Gemeindeglieder. Wir erreichen viele mit dem einen oder anderen Angebot. Aber nur der kleinere Teil erlebt, was das Motto unserer Arbeit ist:
Die Gemeinde ist der Ort, wo dein Glaube ein Zuhause hatund, so füge ich mit Bill Hybels hinzu: Eine lebendige Ortsgemeinde ist die Hoffnung der Welt.
Darum ging es mir vor allem in den letzten 20 Jahren und wird es meiner Frau auch in Zukunft gehen.

Daseinsberechtigung für Christengemeinde
Unseres Erachtens hat eine Christengemeinde nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn sie Menschen ermutigt
• die persönliche Beziehung zu Gott / Jesus zu vertiefen (Glaubenswachstum),
• für Notleidende in der Nähe und der Ferne ein Herz zu haben und
• für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einzutreten.
Nur so hat der Glaube und das Leben Sinn. Anders gesagt: Die Taufe ist wertlos, wenn nicht der Glaube hinzu kommt, der durch die Liebe tätig wird.

Thema Frieden
Seit meiner Jugendzeit habe ich mich gegen Krieg in jeglicher Form eingesetzt. Zunächst ging es gegen den Vietnamkrieg, in dem die USA die sogenannten westlichen Werte wie die Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht mit einer äußerst brutalen Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung verraten haben.
Später war ich in der Friedensbewegung gegen die atomare Bedrohung aktiv. In den neunziger Jahren leitete ich die „Münchner Friedensrunde für Kroaten, Serben, Muslime und Deutsche“. Damals unterstützten wir die Balkan-Flüchtlinge und halfen mit humanitären Aktionen in den vom jugoslawischen Bürgerkrieg zerstörten Regionen. Während des ersten Golfkriegs lebte einige Zeit ein französischer Deserteur in unserer Familie. Heute wehre ich mich gegen die US-Kampfmaschinen über unseren Köpfen, die die Bewohner unserer Dörfern als Zielscheiben nehmen, um so den Krieg zu üben.

Thema Terrorismus
In meiner Zeit als Studentenpfarrer hat mich auch das Thema Terrorismus beschäftigt. Auf Wunsch einer Politikerin besuchte ich einen Gefangenen in Straubing, der am Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm beteiligt war. Gleichzeitig initiierte unsere Studentengemeinde sogenannte „Konsultationen zum Terrorismus“ in der evangelischen Akademie Tutzing mit dem Ziel, den RAF-Terror in der Bundesrepublik zu beenden. Dabei kamen zum ersten Mal alle an diesem Problem Beteiligten zu nichtöffentlichen Gesprächen zusammen: Vertreter des Staates wie die Bundesanwaltschaft, das Bundespräsidialamt, Justizminister der Länder, Gefängnisdirektoren, Verfassungsschutz, Rechtsanwälte, Angehörige von Terroropfern und von inhaftierten wie flüchtigen Terroristen.

Kirchenaustritte ohne Ende
In den letzten 40 Jahren habe ich aber auch miterlebt, wie die Kirchenbindung in der Bevölkerung spürbar nachgelassen hat, die evangelischen Traditionen abgebrochen und die Kirchenaustritte in schwindelerregende Höhen geklettert sind.
Von 1970, als ich mein Theologiestudium in Berlin aufgenommen habe, bis heute sind allein in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 600.000 Evangelische aus der Kirche ausgetreten. Das sind mehr Menschen als die Stadt Nürnberg Einwohner hat oder ein knappes Viertel unserer gegenwärtigen zweieinhalb Millionen Mitglieder.
Zunächst habe ich das wie die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen als eine Zeiterscheinung hingenommen, gegen die man wenig ausrichten könne. Aber je länger desto mehr ist mir klar geworden, dass wir Kirchenleute einen großen Anteil daran haben. Habe ich in der ersten Hälfte meines Berufslebens unsere evangelisch-lutherische Volkskirche noch verteidigt, bin ich in der zweiten Hälfte zunehmend kirchenkritisch geworden. 
Neben dem durch gesellschaftliche Ursachen bedingten Bedeutungsverlust der Kirchen in Westeuropa kommen eigene Fehler hinzu, besonders das Versagen bei der Glaubensvermittlung. In einem Satz: Unsere evangelische Kirche in Bayern wird dem Auftrag Jesu nicht gerecht, Menschen für das Evangelium zu gewinnen und anzuleiten, wie man als Christ lebt und glaubt. Stattdessen verliert sie ihre Mitglieder am laufenden Band. Stattdessen herrscht bei vielen, die noch in unserer Kirche sind, eine erschreckende Unkenntnis von Gott und das Missverständnis, es ginge im Glauben um die bürgerliche Moral. Viele Jahrzehnte lang hat man den Menschen eingetrichtert, was zu glauben ist und was man tun und lassen muss. Aber man hat sie weithin allein gelassen mit der Frage wie das denn mit dem Glauben geht, wie ich im Alltag damit zurecht komme und wie ich das Glück, die Schönheit und Freiheit des Glaubens erleben kann.

McKinsey in der Kirche
Es waren evangelische Christen der Beratungsfirma McKinsey die uns im Dekanatsbezirk München 1995 auf diese Missstände aufmerksam gemacht haben. Sie boten eine unentgeltliche Analyse und Beratung mit dem Ziel, die evangelische Kirche in München für anstehende Herausforderungen zukunftsfähig zu machen. Das Ergebnis der aufwendigen Untersuchung lautete: Die Kirche hat ein Problem mit dem Glauben. Dieses Thema muss neu in den Mittelpunkt ihres Handelns gerückt werden.
Daraufhin wurden viele Verbesserungsvorschläge ausgearbeitet und manche davon auch umgesetzt. So gibt es zum Beispiel seitdem stellvertretende Dekaninnen und Dekane. Ich selbst habe damals mit einem kleinen Mitarbeiterstab eine Geschäftsstelle aufgebaut, die die Vorschläge des „evangelischen Münchenprogramms“ in die Praxis umsetzen sollte. Die Zusammenarbeit mit einzelnen Gemeinden führte zu erfreulichen Ergebnissen. Andere Gemeinden blockierten. Die Kirchenleitung selbst verlor zunehmend das Interesse an diesem Programm. Es hätte vor allem den Dekanen zu viel Veränderung abverlangt. Ich selbst war wohl zu ungeduldig und machte vermutlich zu viel Druck. So wurde das München-Programm wieder sang- und klanglos eingestellt. Immerhin konnten meine Frau und ich wichtige Teile davon in unseren Gemeinden umsetzten. Der größte Fehler des Münchenprogramms war, dass die Veränderung von der Kirchenspitze aus gehen und gemanaged werden sollte so wie eben Veränderungsprozesse in der Wirtschaft funktionieren. Doch das ist ein Irrtum. Meine Erfahrungen in der Landes- und EKD-Synode sprechen dagegen.

Kirchensteuer-Flut
Unser größtes Problem als Kirche ist das viele Geld. 2014 wurde so viel Kirchensteuer eingenommen wie nie zuvor, etwas über fünf Milliarden Euro in Deutschland. Gleichzeitig haben 2014 so viele Menschen die evangelische Kirche verlassen wie nie zuvor. Allein in Bayern waren es 2014 etwa 30.000 Evangelische.
Eigentlich müssten, angefangen vom Landesbischof über die Synode bis hin zu den Dekanen, Pfarrern und Kirchenvorständen überall die Alarmglocken schrillen. Doch man hört höchstens ein leises Bimmeln, weil das viele Geld alles erstickt.
Statt sich mit den zentralen Fragen des Glaubens und mit dem brennenden Problem des Mitgliederverlusts zu befassen, wird in der Landessynode viel Zeit und damit auch Geld und Energie verbraucht, um zum Beispiel Regelungen zu schaffen, dass homosexuelle Pfarrerinnen und Pfarrer in einem Pfarrhaus zusammenleben können.

Das Bad des Dagobert Duck
Mit dem vielen Steuergeld, in dem unsere Kirche badet wie Dagobert Duck in seinem Geldspeicher, kann man viele Leute anstellen, Häuser bauen, kaufen und renovieren, neue Sonderpfarrstellen schaffen, Projekte finanzieren, Agenden drucken, Dienstwagen fahren und die Gräber der Propheten tünchen.
Kindergärten und soziale Einrichtungen werden damit nur zu einem geringen Teil finanziert. Das Geld dafür kommt vom Staat und damit von allen Steuerzahlern ob sie nun Mitglied der Kirche sind oder nicht. Auch für die Restaurierung unserer Orgel in Thann bekommen wir von der Landeskirche keinen müden Cent.
Aber mit dem Geld kann man einen riesigen Kirchenapparat unterhalten, der sich seiner Bedeutung ständig selbst versichert und über den Ortsgemeinden schwebt. Zusätzlich  lähmt das Geld jeden Veränderungsimpuls, weil ja für schöne Fassaden immer genug da ist. Bin ich ungerecht? Ja!

Was hat das Ganze mit Jesus zu tun?
Nur, so frage ich, was hat das Ganze noch mit Jesus zu tun, jenem armen Wanderlehrer, der im Gestank eines Viehstalls zur Welt kam, ohne jeglichen Besitz lebte, seine Jünger ohne Geldbeutel aussandte und schließlich auf Betreiben der Bischöfe, Theologieprofessoren, Dekane und Pfarrer seiner Zeit am Kreuz hingerichtet wurde?
Niemand verlangt, dass alle, die von der Kirche leben, sofort am Bettelstab gehen sollen. Worum es geht, ist die große Umorientierung hin zu mehr Selbstverantwortung der Gemeindeglieder im Sinn des protestantischen ‚Priestertums aller Gläubigen‘  weg vom Tanz ums goldene Kirchensteuer-Kalb, hin zu den Menschen und ihren Seelen und zum wichtigsten Gebot: Gott und die Mitmenschen zu lieben wie sich selbst. Diese Umorientierung aber kommt nicht von oben. Sie muss aus den Gemeinden, sie muss von den Gläubigen selbst kommen.

Fröhlicher Partisan
Wenn ich die Zeit meines Studiums hinzurechne, waren es 45 interessante, aufregende und trotz mancher Enttäuschungen doch auch erfüllte Jahre. Ich habe gekämpft, habe ausgeteilt und musste einstecken. Habe mich geirrt und dazugelernt. Bin schuldig geworden und habe Vergebung erfahren. Habe gelitten und wurde geheilt. Wurde gehasst und geliebt. Ich war Pfarrer aus Leidenschaft.
Und ich weiß, dass ich meiner evangelisch-lutherischen Landeskirche viel zu verdanken habe. Deshalb verdamme ich sie nicht trotz aller Schwächen und Missstände. Aber damit meine Kirche dem Auftrag ihres Herrn wieder gerecht wird, darf sie nicht bleiben wie sie ist, sondern muss sich grundlegend ändern. Von sich aus hat sie vermutlich nicht die Kraft dazu. Aber es werden auch andere Zeiten kommen, in denen ihr nichts mehr anderes übrig bleibt.


Bis dahin macht meine Frau mit den Kirchenvorständen unbeirrt weiter, eine an Jesus orientierte, menschenfreundliche Gemeinde zu bauen. Bis dahin ziehe ich meine Straße weiter als »Fröhlicher Partisan des lieben Gottes« (Karl Barth) solange es ihm gefällt.

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